Tranches de vie V

Am Morgen herrscht Kairoswetter. Veilchenblauer Himmel, von einer strahlenden Gnadensonne erleuchtet – ein Tag, der ein Verwöhnaroma ausströmt. -In den Straßen überall lärmende Sielarbeiten, die kurz unterbrochen werden, als eine Belladonna vorbeistolziert. Ihre Strumpfhose zeigt auf der Höhe ihrer prallrunden Waden ein erhabenes Ornamentband, das aus der Ferne wie ein Hautrelief wirkt, von welchem eine solche Irritation ausgeht, dass ich fast das Zitat über dem Eingang eines „MagicArt“-Ladens übersehe: „Das Schönste, was wir erleben können, ist das Mysteriöse.“ – Wenige Schritte weiter beginnen die Übergriffe: Während ein pneumatischer Pulsationstherapeut mit dem Pflug durch mein Gewebe gehen will, versucht ein anderer mich von der Zivilisatose zu befreien und verpricht mir Frischekuren. Die schon zu wirken scheinen, denn eine strengbezopfte Frau in prolongierter Jugendlichkeit kommt mir entgegen und lächelt mich unverhohlen fordernd an. Sie bittet mich um Feuer, das ich nicht habe, und so faltet sie ihr ehemals freundliches Gesicht wieder zu einer Maske der Gleichgültigkeit zusammen. – Der Slogan eines Elektrogeschäfts: „Wir sorgen für Spannung – überall“, gilt also nicht für mich, und so trotte ich weiter und treffe auf einen stark übergewichtigen Mann, der im Spreizschritt versucht, eine heruntergefallene Münze aufzuheben. Seine Bewegungen vollziehen sich wie in Zeitlupe und nehmen durch die wiederholten Anläufe einen zugleich unernsten und tragischen Charakter an. Zuletzt schafft er es, mit sichtbaren Schweißtropfen auf der zerfurchten Stirn und einer Erleichterung im Gesicht, die eine endlich überstandene Anstrengung ausdrückt. Ihn umkurvt dynamisch eine langbeinige Augenweide, deren übervolle Lockenpracht ihr Gesicht wie eine parfümierte Fahne umweht. Momentweise durchziehen mich unbestimmte Stalker-Fantasien, denen ich aber nicht nachgebe. -Überall liegen Müllverwehungen und Tretminen, den man ausweichen muss. Uringestank in den Hausecken, davor glänzen Harleys in der Sonne. Eine alte Töhle schleicht unlustig einem forsch ausschreitenden Greis hinterher. Bewegungslos glotzen Tauben von mobilen WC-Häuschen auf den Gehweg, wo von fast niemandem bewerkt zwei fein gekleidete alte Damen vor ihrem Stammcafé ihre Kreise ziehen, bevor sie eintreten und ihre luxuriösen Hüte lüften. Ein junges Liebespaar in demonstrativ wollüstiger Umarmung bildet ein rührendes Hindernis, das ich langsam umschreite, nicht ohne die sanft gewellten Speckröllchen an den Hüften der Frau zu bewundern. – Als nächstes fallen mir formschöne Kaugummi-Plastiken auf, die in Reih und Glied auf dem eisernen Handlauf einer Treppe – wie zu einer kleinen Ausstellung arrangiert – liegen. Wortloser Singsang dringt an mein Ohr, dazu treten einzelne Blockflötentöne aus dem allgemeinen Stadtgeräusch heraus und hinterfangen das Satzfragment „graue Wucht“, das eine Passantin ihrem Begleiter zuraunt. Bei einer Fußgängerampel sehe ich einen genüsslich und selbstvergessen an seinem Mittelfinger lutschenden Autofahrer. Ein Selbstverwöhner mehr, denke ich bei mir, und vergnüge mich dann an dem Anblick einer schokobraunen Arzthelferin im körperbetonten, weißen Dress, die an mir vorüberhuscht und deren kleine Statur ein erstaunlich großes erotisches Format besitzt. – Durch diesen federleichten Bilderreigen gütig gestimmt, gewähre ich einem Paar Asiatinnen die Vorfahrt und ernte ein befriedendes Lächeln, schleiche an einer derangierten „Antik-Diele“ und einem frisch duftenden „Kleider-Bad“ vorbei, die mich allerdings nicht davor bewahren, von der Gammeltristesse einer Kneipe mit ihren abgestorbenen Pflanzen und den verdreckten Stühlen erschüttert zu werden und die mir promt einen peinlichen Verleser einbringt: Konservierte Hosen statt Rosen. – Mit der Maxime einer Plakatwerbung „Jede Haut ist schön“ beschließe ich diese frauenbewegte Runde am Morgen eines Tages, den andere ob seiner Sonnenherrlichkeit wohl Pig Heaven nennen würden.

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