Tranches de vie X

Im Bett hänge ich noch kurz einem Dino-Traum nach: Minisaurier, die mich durch ein Labyrinth aus Glaswänden verfolgen. Wenn sie diese durchstoßen, hinterlassen sie faustgroße Löcher, die sofort in Zeitlupengeschwindigkeit wieder zusammenwachsen. Ich bleibe bis zuletzt, wie ich mich zu erinnern glaube, unberührt. – Nach dem Trostbrot gehe ich nach draußen, wo ein schauerliches Wetter herrscht. Graupel punktieren die Aussicht, seltsam trübes Licht liegt auf den Straßen, und in den Zimmern glühen schon am Vormittag die Lampen. Trotzdem begebe ich mich auf die übliche Globe-Trottelei durch den frostigen Alltag, im Schlendertakt, um weitere Fundstücke für meine Splitterchronik zu sammeln. – Was mir zuerst auffällt ist das Schritttempo der Autos, eine verlangsamte Geschäftigkeit überall. Dann der winterliche Mummenschanz einiger Passantinnen, die auf ihren Köpfen leidlich bunte Wollsachen tragen. Aus ihren kaum sichtbaren Gesichtern erklingen halböffentliche Wortsalven. Eine alte Töhle schleicht unlustig hinter einem forsch ausschreitenden Greis her, der ins Frisörgeschäft „Kluge Haare“ einkehrt, wo „Faltensträhnchen“ zum Sonderpreis angeboten werden. Der Hund legt sich erleichtert neben den Eingang. Eine piekfeine Oma stolziert auf dem Gehweg an ihm vorüber und scheint ihr frisch frisiertes Haarwerk zu lüften. Ein süßlich-schwerer Parfümduft steigt mir in die Nase. An einer Ampel strauchelt ein heftig speichelnder alter Mann mit tiefroter Nase beim Überqueren der Straße. Hilfe lehnt er wortlos stöhnend ab. – Kurz vor dem Kanal fordert ein Graffito „Dosen fürs Volk!“, was mich ratlos weitergehen lässt. Eine leicht verwahrloste Alte füttert die Enten und Gänse mit Brotresten. Ich kalauere: „Fütterung der Raubtiere.“ Sie kontert: „Die Raubtiere sind wohl eher die Menschen.“ Am Daumen und Zeigefinger ihrer rechten Hand hat sie Hansaplast angelegt. Meinen verwunderten Blick bemerkend, klärt sie mich auf: „Damit die Haut nicht flöten geht.“ Dann setzt sie ihr liebevolles, umsorgendes Füttern der bedürftigen Federtiere fort, und ich meine Runde. – Ziehharmonikabusse rauschen an mir vorbei und ich erinnere mich an meine mulmigen Gefühle als Jugendlicher, wenn der Bus in die Kurve ging und ich mich auf der beweglichen Plattform – ohne mich festzuhalten – aufrecht halten musste. – Körnige Eiskristalle glitzern auf dem Moosteppich einer brüchigen Backsteinmauer, und plötzlich zeigt sich eine dunstverhangene Sonne, wie ein regloses, gelbes Katzenauge. Die Kälte-Glocke ist spürbar über allem. Eishäutchen, Salzkristallle, Frostpfützen. Im dreckigen Schneematsch sehe ich mehrere herzförmige Ballons, die ihre Luft verloren haben und nun als verschrumpelte Hüllen zur Karikatur ihrer einstmaligen Prallheit verkümmert sind. – Ich höre Blockflötenspiel in einem Hinterhof und gehe hinein. Es ist nur ein dünner Ton und die Melodie wird sehr brüchig vorgetragen. Ich lege eine Ruhepause ein und setze mich in einen neben den Mülltonnen abgestellten alten Schaukelstuhl. Bewegte Unbewegtheit. Durch ein Fenster sehe ich einen Fernseher leuchten. Ein ruhelos wechselnder, bunter Bilderreigen, aus dem ich kurz eine Szene isolieren kann, in der ein Leopard eine Gazelle reißt. Etwa zeitgleich stolpert vorne auf dem Trottoir eine Passantin und flucht: „Das Pflaster ist total uneben.“ „Wie so vieles im Leben“, erdreiste ich mich ungefragt zu antworten, worauf sie sich konsterniert abwendet. – Ich verlasse den Hof und bestaune nach wenigen Metern die Auslage des „Miederstübchens“, in der neben Balconette-BHs ein Leibwärmer aus Angora liegt. Angenehme Vorstelllungen ziehen an meinem inneren Auge vorbei, während meine äußeren sich am Glanzlichtwechsel auf dem Wasser eines Kanals erfreuen. Bei einer Müllverwehung fällt mir eine kohlrabenschwarze, vertrocknete Bananenschale in den Blick. Starr, wie plastiniert kommt sie mir vor. Als Silhouette erinnert sie mich an ein urzeitliches Flugtier. Ich stecke sie ein. Auch sie ist eine Sonderausgabe, wie jeder Tag, den ich vergehe. – Im Schaufenster des Malers O. schmunzle ich über dessen Kuh-Obsession, mit der er die Widerkäuer in allen Stellungen auf seine weißen Leinwände bannt. Besonders apart sind die freisartigen Köpfe, die aus der Ferne wie abstrakte Fleckenmuster wirken. Sie tanzen vor meinen Augen und lassen mich an die Traum-Dinos der vergangenen Nacht denken. – Ein herrenloses, schmutziges Stoffkissen mit einem darauf gestickten Hundemotiv ruht auf einem Stromschaltkasten. Daran ist ein Zettel geheftet, auf dem zu lesen ist: „How could any meal not be an anticlimax after those weekends?“ Was für eine rührende Installation des Zufalls, könnte in jeder Galerie der Gegenwart den Kunsttest bestehen. – In der Kneipe „Zum runden Eck“ lassen die Thekenhocker die Zapfhähne krähen. Biberiker à la Frank Schulz, der sicher auch einen kleinen Hormonschock erlitten hätte, wäre er – wie ich jetzt – mit seinen Stielaugen auf diesen wunderrunden Po gestoßen worden: ein seltenschöner Hinter(n)halt. – Aus diesem werde ich befreit durch einen zahnlosen Greis, der einem Fußgänger hinterherschimpft, der bei Rot die Ampel überquerte. Seine mahnend erhobene, rechte Hand zittert noch länger in der Luft, in der nun wieder leichte Schneeflocken umherwirbeln. – Ich fröstele, und kurz vorm Einkehren wendet sich eine Nachbarin an mich: „Ist Ihnen kalt?“, worauf ich trocken mit Ja antworte und sie mir abschließend mitteilt: „Mir auch. Ich friere lieber im Sommer.“ Nicht wenig verwundert über diesen Return, gehe ich auf meine Haustüre zu und finde auf dem Boden das Foto eines kleinen Hundes mit der schriftlich fixierten Aufforderung: „Wollt Ihr, dass der ins Tierheim kommt? Helft uns!“ Ungerührt trete ich darüber hinweg und mit dem Gedanken in den Hausflur ein, dass selbst solche rührigen Fürsprecher den Dinos das Aussterben nicht hätten ersparen können. Quel parcours. – Abgefüllt mit tierischen Eindrücken mache ich mich an den Aufstieg ins dritte Obergeschoss, wo ich ganz langsam die Türe öffne und mich innerlich gegen jede Überraschung durch unliebsame Wesen zu wappnen versuche.

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2 Antworten auf Tranches de vie X

  1. walter sagt:

    Unglaublich, bin ich froh, dass ich in meinem Federnkino keine unbewegte Bewegtheit erlebe 😉
    Von den „Tranches de vie“ das bis jetzt mich am meisten beeindruckende Tranche!
    Liebe Grüsse
    Walter

  2. Uwe sagt:

    Danke. Schön, dass Du Dir die Zeit nimmst, meine flüchtigen Dilettantismen zu lesen. Mit dem „Federnkino“ meinst Du das Liegen und Träumen im Bett, oder? Gefällt mir, das Wort. Werde ich mir notieren. Gruß, Uwe.

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