Monolog

„Wie kann man nur so charmant aussehen und dabei so frech lügen?!“ So lautete der gut vernehmliche Satz einer vornehm-blassen Dame mittleren Alters mit silbergauen Locken über die adrette Kellnerin, welche auf ihre Nachfrage, wann denn nun die Bestellung eintreffe, freundlich entgegnete: „Sofort!“ Nachdem sie erläutert hatte, dass sie schon eine halbe Stunde in einem merkwürdig ereignisarmen Wartestand in diesem Kaffeehaus verbringen musste, ließ sie ungefragt meine Tischnachbarn und mich wissen, dass sie am Abend zuvor früh im Bett gelegen und einige Zeit mit einem guten Freund, einem Buch, verbracht habe. Selten jedoch und mitnichten in Gegenwart ihrer diversen Liebhaber oder gar des eigenen Mannes hätte sie sich so leicht gefühlt wie bei dieser Bettlektüre. Wie ausgewechselt wäre sie sich schon beim Lesen des ersten Satzes vorgekommen, wie in ein erinnerungsloses Ungefähr versetzt, völlig jenseits der Durchschnittswelt und begleitet von einem angenehm menschenfernen Lebensgefühl. Auch könne sie nicht angeben, wann die aufmerksame Lektüre in eine zunehmende Müdigkeit übergegangen und sie in einen tiefen traumlosen Schlaf gesunken sei. Beim morgendlichen Aufstehen schien es ihr als würde sie über den Marmorboden ihrer Villa schweben. Federleicht und auf eine sie nur mäßig befremdende Art substanzlos und wie nicht zugegen wäre ihr der papierbleiche Körper erschienen. Gedacht habe sie nichts, sondern eher den gelesenen Schriftzügen nachgesonnen, die sich immer wieder als unwillkürliche Projektionen auf dem Schirm ihres Bewusstseins einfanden. Ihre Rede kannte keinen Absatz. Mit einen Schwarm aus Worten hüllte sie meine Tischnachbarn und mich ein und versuchte uns über diese Art von Abwesenheit aufzuklären, die noch den ganzen Morgen über angehalten hatte. Erst gegen Mittag wäre sie genauso plötzlich aus dieser Blase wieder herausgefallen wie sie am Abend zuvor in sie hineinversetzt wurde. Den Kakao mit der Sahnespitze, den die Kellnerin brachte, als sie ihren Monolog mit einem energischen „Bums!“ beschloss, ließ sie stehen. Sie packte ihre Sachen zusammen, wünschte uns eine schöne Zeit und lief in die einsetzende Dämmerung hinaus. Mit einem „Was war denn das?“ kommentierten meine Tischnachbarn das Vorgefallene und waren peinlich berührt von dieser Darbietung eines, wie sie meinten, potentiell verrückten Mitteilungsdrangs. Mir selbst aber war ganz warm von den Worten geworden und es schien, als ob ich noch immer im Bannkreis des eben Gehörten festsitzen würde. Als die Kellnerin mit lauter Stimme meine Bestellung einforderte, ging ich grußlos davon, nicht zuletzt in der Hoffnung, die betuchte Hanseatin verfolgen zu können. Doch sie war verschwunden … und tauchte erst gestern wieder auf – beim Tippen dieses Notats.

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3 Antworten auf Monolog

  1. syntaxia sagt:

    ..gern gelesen 🙂

    ..grüßt Monika

  2. Frau Blau sagt:

    Eine wunderschöne Geschichte!
    Danke!

  3. irgendlink sagt:

    Ich hoffe:
    Du triffst sie wieder.
    Die Kellnerin hat keinen Schaden genommen.
    Deine Tischnachbarn werden weiterhin Deine Tischnachbarn sein wollen.
    Obschon Marmorfußboden und feine Kleider noch keine betuchte Hanseatin machen.

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