Trotz Defätismus in allen Gliedern wage ich am Morgen bei bestem SUN- und FUN-Wetter einen coolen Gang in den lichten Tag. – Beim Überqueren der Straße treffe ich eine Nachbarin, die mich in ein Gespräch über den täglichen Gemeindek(r)ampf verwickelt. Einig werden wir uns, dass im Kirchenvorstand mitnichten die christliche Lehre praktiziert wird. – Wenig später sehe ich in einem Eiscafé fünf Straßenkehrer in ihren orange leuchtenden Arbeitsjacken, die genüsslich ihr Eis lecken und dabei über die Funktionsvielfalt ihrer Handys staunen. – Ich komme an einem Stromkasten mit dem Aufdruck „MINDFUCK“ vorbei, unter dem ein Zettel mit folgendem Text geheftet wurde: „Zimmer in 2er WG bei Mann gesucht – durchschnittlich ordnungsliebend – gleichwertiger Umgang – weibl. 41 J. – Freie Journalistin – ca. 3 Zigaretten tägl.“ Nabelschau in der Öffentlichkeit, mehr Selbst- als Suchanzeige. – An der Alster verirren sich einige Gesprächsfussel in meine Ohren: „Der konnte es ja gar nicht anders einsetzen … Billardspielen … Wenn ich es mir leisten kann, brauch‘ ich erst gar nicht darüber nachzudenken, ob das Angebot stimmt oder nicht … Muschlineschdee … Der ist 10 Jahre alt. Wo hört der solche Wörter? … Da war’n wir für 4 Tage in New York … Heute hälst du dich mal fest, zur Abwechslung …“ Flüchtig gehört und nicht weiter verfolgt, obgleich bald jeder dieser Sätze oder Satzfetzen einen Beginn markieren könnte. – Eine Schokotafel wird als „Depriphasenkiller“ annociert. Das könnte ich momentan auch gebrauchen. Große Reizbarkeit, ein angeschwärztes Leben im NörgelPott. Unter Tage, seelisch. Unausgeglichen, aggressive Genervtheit bei geringsten Anlässen, vor allem angesichts der Unwiderlegbarkeit des Alltags. Dazu kommt das Gefühl, diversifiziert zu werden, von meinen Ideen, den Ereignissen, Zufallsbegegnungen und meinen Lektüren. Es fehlt die Richtung, wie auf diesen Runden. Die Qual der Teilnahmslosigkeit, die Leere der unverbundenen Eindrücke. Nichts ergreift mich wirklich, ein Ab-Leben in Tagesraten und -routen. Und so weise ich eine greise Bettlerin, die in mein Schattendasein mit verschrumpelten Händen tritt, brüsk ab, wie niemals zuvor. – Der Schriftzug „Tritt Mich“ auf einem Zettel im Gebüsch lässt daher meinen Gang schneller werden, unruhiger, drängender. Ein wenig Entlastung erfahre ich beim Anblick einer Frau, deren langer Schal sich zwischen ihren Schenkeln eingeklemmt hat. Hinten zeigt sich ein Franzenschwanz, der durch die Bewegung der Pobacken lustig hin und her wackelt. Beruhigend auch der zarte Lichtschimmer und die warmen Luftkissen zwischen den Bäumen. Von der Aufforderung eines „Ahoj-Brause“-Plakates „Mach was Prickelndes …!“ fühle ich mich ermutigt, und das schöne Bild eines Vierer-Ruderboots mit Steuermann, das im Gleichmaß beständiger Schläge auf dem Kanal gleitet, lässt mich aufatmen. Doch wenig später sprechen die Redefetzen einer entgegenkommenden Handyfrau eine übergroße Mahnung aus: „Disziplin … Energie … Struktur.“ Ein Aufruf zu allem, was mir derzeit fehlt. Stattdessen: Leere Sinne, müder Wille, blindes Fühlen, und das Bummeln als Fluchthelfer. Steuerlos treibend im Alltagsmeer. „OhneZiel“ – wie es die hundertfach verteilten Aufkleber auf den Stromkästen mir täglich vorsagen. Tret mich, Mühle!
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Die hier veröffentlichten Fotos entstehen allesamt beim Spazierengehen. Sie zeigen zufällig in mein Blickfeld geratene und mit der Kamera festgehaltene Motive. Es geht mir bei diesen Augenblicksaufnahmen um eine Zwiesprache mit dem Sichtbaren, in der etwas scheinbar Vertrautes und Alltägliches ins Befremdliche oder Überraschende kippen kann. Alle Besucher sind herzlich eingeladen, ihre eigene deutende Fantasie tätig werden zu lassen und die Fotos zu kommentieren.Kategorien
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Das Ich gilt, nur nicht mein Ich. (Jean Paul)
Max Frisch lässt grüssen,
Josef
Nicht nur Max Frisch, es sind noch viele andere, die mich auf meinen Gedanken-Spaziergängen begleiten. Auch hier, wie bei meinen Fotos, geht es um das Zusammen-Spiel von Gehen, Sehen und Festhalten, wobei die Texte den Geher selbst und seine Befindlichkeiten stärker ins Visier nehmen – immer jedoch im Rekurs auf das, was ihm zufällt und was er daraus deutend macht.