Short cuts XXXI

LebenAm Morgen traf ich beim ziellosen Schlendern auf eine Frau in einem blassblauen Kostüm, deren Schuhe ihr nicht mehr recht zu passen schienen. Früher saßen sie wohl mal wie angegossen, doch jetzt, im hohen Alter, schrumpften die Füße, und so machten die Absätze beim Gehen ein klackerndes Geräusch. Wie eine unliebsame Erinnerung, die sich immer wieder ins Gedächtnis ruft, ertönte es bei jedem Schritt kurz und hart auf dem Asphalt. Zudem rieben sie an den Fersen, die sich unter den Strumpfhosen schon zu röten begannen. Bei einer Ampel stoppte sie eher unwillig, und ich bemerkte die Schminke, die ihr faltiges Gesicht wie eine verwitterte Maske bedeckte. Auch waren die dürren Haare zu einem labilen Turban toupiert, der im Wind hin und her wankte. Ich dachte gerade die Worte Verpuppung des Alters, als sie plötzlich und ohne auf das Grün der Ampel zu warten die Straße überquerte und heil auf der anderen Seite anlangte. Ein Passant wies sie überdeutlich auf ihr Fehlverhalten hin, doch leise murrend wehrte sie dessen Worte ab, worauf dieser ausfallend wurde. Er beschimpfte sie mit „Fotze“ und ging, sobald er durfte, über die Straße. Beim Überholen der Frau stieß er laut vernehmliche Todesverwünschungen in ihre Richtung aus und verschwand wild gestikulierend hinter der nächsten Ecke. Die Frau blieb wie erstarrt stehen, so dass ich ihr unvermutet sehr nahe kam, und das letzte, was ich bemerkte, war ein Geräusch: das leise Knirschen ihrer Zähne. Ein Kloß setzte sich auf meine Gurgel – und blieb bis eben jetzt, wo in meinem Kopf das traurige Los der verfluchten Greisin widerhallt und ich froh bin über alles, was mir beim Schreiben NICHT zustößt, so dass ich sie hier, in den letzten Zeilen dieses Notats, das morgendliche Schrecknis vergessen und weiter mit ihren Absätzen unbehelligt durch die Straßen klackern lasse, bis auch das von niemandem mehr gehört und sie selbst verschwunden sein wird.

 

Dieser Beitrag wurde unter Fotos, Texte veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Eine Antwort auf Short cuts XXXI

  1. Sofasophia sagt:

    da hat aber einer überreagiert, ganz gewaltig. ich danke dir, dass du die frau von ihren flüchen hier freigeschrieben hast … und schliesse mich deinen hoffnungen an.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert