Tranches de vie XVIII

In der Frühe stehe ich auf der Loggia und betrachte einen trüben Himmel. Nichts lässt sich erschließen, kein Lichtstrahl erhellt Details. Stattdessen überzieht ein grauer Schleier die Dinge, wodurch sie ihre Konturen verlieren und zusammenrücken. Windböen fegen durch die Straßen, an deren Rändern Laub darauf wartet, entsorgt zu werden. Als ich mich frage, wann heute wohl das von mir geschnürte Paket abgeholt wird, sind sie schon da, die Abfallwerker. Sie werfen den gesammelten Papiermüll vor meinem Hauseingang in ihren Wagen, darunter auch jene Blätter, von denen ich mich gestern trennen musste. Sie waren nicht viel mehr als die schalen Überreste vergeblicher Schreibanstrengungen, verlorne Müh‘, die mir den Traum von letzter Nacht in Erinnerung ruft. Dort gelang mir inmitten einer vergnügten Gesellschaft ein in Rhetorik, Witz und Aussage perfektes Bonmot, das alle verstummen ließ. Bedauerlicherweise ging es beim Erwachen verloren. Seitdem plagt mich ein Verlustgefühl, das in mir rumort. Warum eigentlich? War es nicht besser, dass der Traumsatz ins Nichts zurückfiel und meine Kraft nicht ausreichte, ihn zu bannen? Was hätte ich schon im Alltagstrott mit ihm anfangen können? Nein, weg ist weg: Es ist sinnlos, Entschwundenes zurückholen zu wollen. Plötzlich höre ich Laute, ganz in meiner Nähe. Schräg unter mir sehe ich über der Brüstung der Loggia den Kopf einer greisen Nachbarin wackeln, die vor sich hin spricht. Ihr faltiges Gesicht wird von dem orangegelben Blinklicht des abziehenden Müllwagens gerade eben noch erleuchtet und so kommt sie mir vor wie eine Prophetin a. D., die Bruchstücke orakelt: … Taube … Kostüm … Schmerz … Verlegenheit … Trauer … Fessel … Geschmack … Rettung … und so weiter und so fort, immer nur vereinzelt in die Luft gestoßene Worte, deren Zusammenhang genauso im Ungefähren bleibt, wie die Außenwelt in diesem diffusen Morgenlicht, und nur indem ich die Augen scharfstelle wird auf dem Bürgersteig ein Mann für mich sichtbar, der unsere Straße mit einem Band absperrt, auf dem mit schwarzen Lettern in endlosen Wiederholungen steht: BITTE WEITERGEHEN! HIER GIBT ES NICHTS ZU SEHEN! Das stimmt, und so verlasse ich meine Loge und setze ein wenig Hoffnung auf den weiteren Verlauf dieses Tages, soll heißen: vorsichtig, beinah heimlich, werde ich seinem Fortgang folgen und versuchen, die beiläufigen Angebote zu bemerken. Ich kann ja nicht immer leer ausgehen, oder?

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