Tranches de vie XIX

Hals über Kopf sprang ich heute Morgen aus dem Bett, wusch mich und hüpfte mit Elan die Treppen hinunter, raus auf die Straße, um den Tag zu vergehen, denn meist fällt mir dabei etwas ein oder auf. Heute aber nicht. Keine Worte wirbelten durch die Luft, kein Schatten verriet sein Geheimnis, kein Penner orakelte vor sich hin, kein Geschäft bot mir seine Auslagen an, kein Mensch schleuderte mir seine Liebe oder Verachtung entgegen, kein Platz lud mich ein, kein Irrer ließ sich gehen, überhaupt kein Fremdleben, dem ich folgen konnte, nirgends, alles schien mir fahl und leer, nur stumme Kulissen nahm ich wahr, in denen erloschene Gestalten hockten, und die Liebe Not, die mich mit ihren dunklen Kulleraugen in Gassen lockte, wo es nach Alkohol und Pisse stank. Der Wind war kurz angebunden, das bucklige Pflaster ließ mich stolpern, ich blieb stehen, torkelte mit rudernden Armen weiter, lief um vielversprechende Ecken, die dann in Sackgassen mündeten, ging dahin und dorthin, hinaus und hinein, doch überall nur graue Mauerstücke und hohle Fensteröffnungen, trank im trübgelben Licht einer Durchfahrt einen bitteren Kaffee, stierte dabei in den verschleierten Himmel der Pfützen, und selbst am Kanal, wo ich in stiller Selbstgenügsamkeit schon ganze Nachmittage auf einer Bank verhockte, selbst dort verging mir Hören und Sehen. Schlotternd stand ich im Ungewissen und vermickerte inwendig. Was war mir geschehen? Nichts oder dasselbe wie immer: das Alleralltäglichste, nur eben ins Stumpfsinnige, ins Öde und Nichtige, ins Verderben gedreht: Was mir sonst als das prallbunte Leben der Straßen entgegenkam, war heute eine monströs aufgeblähte Leiche mit unförmig verdrehten Gliedmaßen. Als ich begriff, dass aus diesem Gang kein Fünkchen zu schlagen sein wird, setzte ich meine Scheuklappen auf, die ich für solche Fälle immer bei mir trage, und schleppte mich zurück. Als ich eintrat, fragte mich die Herzdame, ob ich das sei, der so stinke. Ich erklärte ihr alles, worauf sie mich auszog und unter die Dusche schickte. Und erst nach der Dämmerstunde war ich bereit, den Rechner zu öffnen, die Fingerspitzen auf die Tastatur zu setzen und Dir, werter Leser, über diesen Tagesgang zu schreiben. Bis zum letzten Buchstaben, den ich niederdrückte, blieb die Gewissheit aus, in naher Zukunft je wieder einen neuen Anlauf nehmen zu können.

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