Der heutige Tag war der erste und verlief reibungslos. Die Hitze trocknete meine letzten Ärgernisse aus, das erste Bad im See war eine Gnade, und die Dämmerung verschlug mir den Atem, nur der Schlaf setzte zögernd ein und mündete in einen Traumkummer ohne Namen.
Der heutige Tag flog dahin zwischen Beauties und Bankern im heißen L, ein Lettnerfresko versprach Erlösung durch Nachfolge im Leiden, doch ich ließ mich allein von einem Gemälde mit dem Jesusknaben ergreifen, der dem Lamm in seinen Armen liebkosend den Hals umzudrehen schien.
Der heutige Tag war so strapaziös wie mein Schatten, ungefähr. Ich mied jede Bewegung und wohnte im Schauen.
Der heutige Tag machte mich zu einem Gott in Shorts und Sandalen, hoch oben auf einem Berg, wo eine Kapelle Demut vor dem Tode lehrte und zugleich das Kreischen der Teenies auf der Sommerrodelbahn das banale Treiben der Lebenden bezeugte.
Der heutige Tag diente dem Drehen eines Schweißfilms. Das Finale zeigte mich als Wasserlache auf der Terrasse verdampfend, alles schien vorbei, bis die Zikaden einsetzten und die Nacht der Rekreation einleiteten.
Der heutige Tag begann mit der Erinnerung an einen Traum, in dem ich wegen des Überquerens von Gleisen verhaftet, verhört und inhaftiert wurde. Ich döste in der Zelle und wusste nicht mehr ein noch aus, bis Harndrang mich weckte, danach hatte ich den Anschluss verpasst und schlief traumlos weiter.
Der heutige Tag erlaubte eine Fahrt über den See. Gut belüftet von linden Winden kehrte ich in schmucke Örtchen ein. Die Wolkenberge ruhten in Formation über den Gipfeln, und trunken vom Blau blieb mir nichts zu wünschen übrig. Ohne Arg war ich nur da und badete in einer Postkartenidylle.
Der heutige Tag trat auf der Stelle. An ein Fortkommen war nicht zu denken, stattdessen seliges Dösen im Schatten, begleitet vom zarten Zwitschern der Vögel und dem Rascheln der Eidechsen im welken Laub. Zuletzt schien ich das Gewicht einer Feder angenommen zu haben und flog davon.
Der heutige Tag setzte Maßstäbe. Ein schroffes Tal, ein reißender Fluss, hohe, steile Berge, riesige ausgespülte Steinbrocken in türkisblauem Wasser, seltenschöne Blicke durchs satte Grün der Bäume und Büsche hinab ins Flussbett mit den halbnackten Nixen und dem Geröll, eine Wunderkammer der geschliffenen Formen tat sich vor meinen Augen auf, bei denen jede Beschreibung versagt. Es war, als ob mir etwas zu Kopfe stieg, das mich alle Anstrengung vergessen ließ.
Der heutige Tag behielt seinen Zauber für sich, den er im Silentium der Nacht erhalten hatte: Laut dröhnend war plötzlich aus einem Nachbarhaus ‚Nessun Dorma‘ von Puccini zu hören gewesen, als ich einen Zwischenstopp auf unserer Terrasse hielt, um etwas kühlere Luft zu schnappen. Die Gänsehaut hielt selbst im Bett noch an.
Der heutige Tag war der Ruhe vorbehalten. Tierisch faul lag ich auf der Liege, dusselte vor mich hin wie einer, der auf nichts wartet und ließ die schwülen Luftpolster sich an meinen feuchten Körper schmiegen.
Der heutige Tag wurde immer leiser, bis nur noch der ‚Zikadenfunk‘ zu hören war. Die stärkste Sehnsucht war die nach einem Eisbad unter Palmen.
Der heutige Tag schickte mich auf die Matte, wo ich, von keinerlei Anwandlung zur Aktion verlockt, bleischwer schlief und träumte, in den Schlund einer riesengroßen Tuba gefallen zu sein, um dort einer geheimen Hörmission nachzugehen.
Der heutige Tag ließ mich durchdrehen. Tief im Dunkel des Sees entdeckte ich den Flügel, den zu spielen ich nie für möglich hielt und der sich mir nun umstandslos ergab. Nichts störte meinen Auftritt, doch niemand nahm von ihm Notiz, kein Leben änderte seinen Lauf, mein größter Wurf blieb unbemerkt, nur ich, ich war blaugeeicht von den Tönen.
Der heutige Tag brachte Abkühlung durch ein vorbeiziehendes Gewitter. Nieselregen, leichtes Donnern in der Ferne, ein langsamer Abstieg der Temperatur. Dann riss die Wolkendecke auf und die Sonne grinste hervor, der blendende See hielt wieder Hof, und der Wind säuselte in den Palmen. Alles wie gehabt und doch wie nie besessen.
Der heutige Tag säbelte sich ein Stück seines Charismas ab, um damit die Bedürftigen zu erfreuen. Nicht jeder wusste es zu ehren, so dass sie andernorts die Zeit totschlagen mussten. Nur ich lobte die Vorsehung, durch die dem geborenen Faulenz alles vor die Sinne fiel. Verweilen hieß das Motto.
Der heutige Tag war ein einziges Sitzen in der Wärme. Meinen Kopf streiften leichte Böen, das Blau ließ sich blicken, das weiche Wasser empfing meine Glieder, und zuletzt konnte ich sehen, wie rosa Wölkchen sich auf den Gipfeln sanft niederließen.
Der heutige Tag war selbst zum Vögeln zu heiß. Wir tauchten im See ab und ließen uns zum Trocknen auf der Kieseldecke nieder, während in uns jede Anstrengung dahinschmolz wie Wachs.
Der heutige Tag führte von einem Belvedere zum anderen, mit Blicken auf den See, denen man Andachtskapellen bauen müsste.
Der heutige Tag schenkte uns einen hitzigen Flug. Alle Last fiel von uns, leicht wie Blätter segelten wir durch den blauweißen Himmel, unter uns die silbern glitzernden Wellenkämme, vor uns nichts als offene Räume, gerahmt von samtig grün schillernden Bergrücken. Wir waren anderswo zuhause.
Der heutige Tag setzte ein wie Breitwandkino. Wolkenschatten zogen über den See, Boote schaukelten umher, Lichtblitze fegten über die Bergrücken, Wind signierte das Wasser mit wechselnden Mustern, und wir saßen geschützt in unserer Loge und verfolgten das Schauspiel, das uns in seiner flüchtigen Schönheit anrührte.
Der heutige Tag zeigte mir eine junge Schokokette zum Niederknien. Wie gerne hätte ich das kursive Schrifttattoo auf dem schmalen weißen Hautstreifen unter ihrer rechten Brust entziffert, dort, wo das Oberteil ein wenig hochgerutscht war, doch sie saß zum Greifen fern im Kreis ihrer pubertären Verehrer im Schatten uralter Bäume und spielte Karten.
Der heutige Tag machte mich zu einer Marionette des Lichts.
Der heutige Tag begann mit einem Desaster: drei neue Mückenstiche bei M.
Der heutige Tag legte mit einem Traumzitat los: Dein Morden bringt keinen Frieden.
Der heutige Tag führte mich auf einen Heiligen Berg: in wüster Hitze bestiegen, zwei Dutzend Kapellen mit lebensechten Figuren aus der Vita des Franz von Assisi bestaunt, auch ohne Glauben angerührt ob der unermüdlichen, künstlerischen Handarbeit im Dienste eines Gottes, in wüster Hitze wieder abgestiegen. Unten dann ein erlösendes Bad unter harmlosen Sündern im See.
Der heutige Tag floh unter eine grauweiße Wolkendecke. Zeit zum Kuscheln und zum Sich-Erkennen mit verstellten Stimmen.
Der heutige Tag bildete ein Endlosband von schönen Offerten, die ich nicht ausschlagen konnte. Reich beschenkt fiel ich am Abend ins Bett und vergrub mich in die blickverminten Laken.
Der heutige Tag gewährte mir ein komplizenloses Glück im Winkel eines Gartens, wo ich unter Palmen liegend dem langsamen Flug der Wolken folgte.
Der heutige Tag glich drei Punkten der Auslassung.
Der heutige Tag lebte allein von deinem Lachen, denn: ‚Wenn du, Liebste, lachst / Rennt der Wind hinter dir her um mit dir zu lachen / Wenn du lachst, ist es als ob die Sonne sich in meine Hand legt in Millionen kleinen Scherben von blinkendem Glas ohne aufzuhören. / Jedesmal wenn du lachst lache auch ich um vor Lachen zu sterben in deinen Armen. / Um vor Lachen zu sterben im vollen Rausch deiner Freude‘
Der heutige Tag verzehrte sich in einer stehenden Hitze. Ich lag abseits in meinem Schattennest und horchte in die Windstille: das Summen der Bienen im Lavendel und das Rauschen des Blutes. Mehr brauchte es nicht.
Der heutige Tag fand nicht statt oder nur als Souvenir des Gestern.
Der heutige Tag verlor sich in verschleierndem Dunst und blendendem Glast. Das Wasser des Sees wurde zur leuchtenden Folie, leicht kräuselten sich die Wellen, und ein Bad hätte nur das Bild gestört.
Der heutige Tag wurde von mir zum Guthaben für schlechtere Zeiten ernannt.
Der heutige Tag gab von nebenan mal kein Kröcheln der Pensionisten zu Gehör, stattdessen pfiff der Nachbar allzuoft nach seinem Hund. Ich antwortete lauthals mit der Toreador-Arie aus Bizets ‚Carmen‘.
Der heutige Tag schoss aus allen Liebeslagen seine Lichtpfeile ab. Getroffen, aber leichter ums Herz, lag ich später im Himmelbett und erwartete die vollendete Umnachtung.
Der heutige Tag war ein einziges Erwachen, bis das Quietschen der Jalousien sein Ende quittierten.
Der heutige Tag ließ sich nicht zweimal bitten. Kaum begonnen, warf er mich ins helle Blau, aus dem es kein Entrinnen gab. Angeheitert und müde zugleich wohnte ich am Abend auf dem Daybed dem Eindunkeln bei, die Sterne funkelten über mir und die Nachtluft trocknete den Schweiß auf meiner Stirn.
Der heutige Tag versetzte mich an einen anderen Tag, an dem ich von einem Tag wie heute nur träumen konnte. Vorüber ging auch er wie im Fluge.
Der heutige Tag war wie alle anderen, nur kürzer, da ich ihm sein bestes Stück abgeschnitten und eingemacht habe.
Der heutige Tag schmiegte sich wie ein weiches Handkissen an meine Wange und blieb unbeschreiblich.
Der heutige Tag goß Öl ins Feuer meiner schwärmerischen Neigungen, mit denen ich die üppigen Hortensien zur Blume meiner zukünftigen Heimstatt ausrief.
Der heutige Tag gab mir das Versprechen, nie wieder einem Herbst zu begegnen.
Der heutige Tag entführte mich auf eine Fahrt am Ufer des Sees entlang in zuckende Klingen aus Schatten und Licht.
Der heutige Tag gehörte A. Promenade, Werefkin und Monte Verita. Der Ort hatte zwar Atmosphäre, aber von der ursprünglichen Aussteigerutopie auf dem Berg sind nur noch historische Bilder einer Ausstellung und einige Licht- und Lufthütten geblieben. Begeisternd waren die veritablen Blicke auf den See, täuschend schön.
Der heutige Tag öffnete das rechte Augenlid und schon war ich gerüstet mit Sonnenlicht, selbst in den abgedunkelten vier Wänden. Denn es war Sommer, und Sommer ist: ’wenn das Zimmer bei halbgeschlossenen Jalousien vor sich hin dämmert, wenn eine einsame Fliege brummend das Freie sucht und nicht findet, wenn draussen Zikaden zirpen bei brütender Hitze, während über die Fliesen Lichthasen huschen, zitternd weisse Geschöpfe, und Vasen, Töpfe, Krüge als Stilleben gänzlich ruhen‘
Der heutige Tag blieb in sich verschlossen. Mattes Licht, Windstille. Ein Tag für unaufhörliche Selbstgespräche in memoriam.
Der heutige Tag offenbarte mir den Galgenhumor desjenigen, der weiß, dass das Ende der Auszeit naht und der ihm mit einem Lächeln gelassen entgegensieht. Mir bleibt ja der Märchenton, mit dem ich meine Erzählungen beginnen kann: Es war einmal.
Der heutige Tag versprach mehr als er und jeder andere wird halten können: tomorrow never happens.
Der heutige Tag verging folgenlos. Er wurde weise verschlafen. Der Gesang blieb ungehört, die Verführung unbemerkt, die Tiefen des Sees unerforscht.
Der heutige Tag hinterließ mich als den Traumautor eines Naturwanderführers für die Buchten der amerikanischen Ostküste. Im hohen Ton geschrieben, garantierte ich den Lesern die besten Verirrungen mit Sehenswürdigkeiten, die sie nicht finden können. Gewidmet war er meiner Freundin K., die nach der Lektüre in Melancholie verfiel.
Der heutige Tag küsste mich wach. Das Licht breitete sich aus, der Wind strömte weich und warm, der See weckte alle guten Geister, ich setzte das Sonnensegel, und umschwirrt von Vögeln fuhr ich aus, um die Schöne Insel zu besuchen. Dort herrschte im Palast Humilitas inkognito, aber die Bäume und Blumen im Park waren prächtig. In der stehenden Hitze bewegte ich mich auf den Spuren der Meisterin Natur. Alles andere ließ mich eher kalt, einzig der Fleiß, mit dem hier eine potente Familie die Künstler verpflichtete, an ihrer Unsterblichkeit zu arbeiten, war rührend.
Der heutige Tag war der letzte. Abreise mit Wehmut. Wir kommen wieder, keine Frage. Trotzdem, es fällt schwer: ‚Nun vor sich keine neuen Wunder mehr / Und mit sich selbst allein, wie rau und schwer / War da der Heimweg zum gewohnten Ich!‘
*
Der heutige Tag senkt langsam das verfassungswidrige Ende der Ferien auf mich nieder: Ich rutsche mir den Buckel runter und hoffe auf kein Morgen.
Das klingt nach viel Gegenwärtigkeit, Schönheit, Sinnlichkeit und Erholung.
Mich freuts.
Ein sehr genialer Text!
Was für ein feiner Text, Uwe – zum laut vor sich hin lesen und auf-der-Zunge-zergehen-lassen.
Und trotzdem:
Das Schöne ohne Gesellschaft ist mehr als nur ein Klotz am Bein, es kann einen auch herausfordern: Man fühlt sich aufgerufen, selbst etwas Schönes zu schaffen, eine Gegendroge, und spürt schnell das Unzulängliche.
(Bodo Kirchhoff)