V
Einst orakelte ich mit Eifer
und eine Menge Hörer stimmten ein
Heute hocke ich allein im Sesam
und Ali Gaga sucht mich heim
Einst war ich ein wandernder Gigant
und träumte von kapitalen Abgängen
Heute bleibe ich allen Gipfeltreffen fern
und der Mastermind ist off
Einst glaubte ich an den Zeilensprung
und alles Ungereimte kam mir gelegen
Heute bettle ich um den kleinsten Unfug
und lande stets nur Pleiten
Einst stand ich im Boudoir der Sprache
und mutmaßte über Spiegelungen
Heute bewege ich mich nicht vom Fleck
und dulde die Absenz der Musen
Einst lutschte ich gekühlte Erdbeeren
und ertrug mit Fassung jeden Mitesser
Heute wässere ich Geranien der Apathie
und pflanze Primeln des Missmuts
Einst befand ich mich inmitten hoher Majestäten
und Posaunen begleiteten meine Umzüge
Heute klebe ich auf dem Boden fest
und die Messen sind gelesen
Einst hörte ich vielerlei Stimmen
und konnte fließend Französisch
Heute kriege ich beim Sprechen kalte Füße
und leide an Gedächtnisschwund
Einst geizte ich mit den Ressourcen
und wollte ums Verrecken nicht verschwinden
Heute tappe ich kraftlos im Dunklen
und die Groschen fallen ins Leere
Einst sprang ich aus dem Fenster
und ein Blitzlicht erhellte meinen Flug
Heute liege ich stocksteif im Bett
und betrachte gerührt das Foto
Einst ballte ich die Faust im Rücken
und wollte mir selbst entkommen
Heute bedrückt mich mein Schattendasein
und ich treffe nur auf lose Enden
Einst kam ich auf mich zu
und zwinkerte mit den Augen
Heute entsinne ich mich der Spuren
und weiß sie nicht zu lesen
Einst war ich ein ausgewiesener Ohrenzeuge
und eine jede wollte sich offenbaren
Heute zehre ich von den Bekenntnissen
und treffe nur Geschwister der Melancholie
Einst stiftete ich eine Pension des Zutrauens
und scheute keine leibhaftigen Freuden
Heute horte ich lebensgroße Pinups
und praktiziere halbseidene Affären
Einst schmuggelte ich Verse in Dosen
und schlug die Zeit mit Strophen tot
Heute stibitze ich prominente Zeilen
und schmücke mich mit fremden Federn
Einst wagte ich den ganzen Einsatz
und mir verging Hören und Sehen
Heute tritt mir das Unmögliche entgegen
und ich genieße allein das Verzögern
Einst schien mir selbst das Wichsen erhaben
und ich war dem Großen Ernst verwandt
Heute bin ich ein träges Faktotum
und die Ambition reicht gerade fürs Vorspiel
Einst orgelte ich ein kräftiges OK
und verlor im Nu die Contenance
Heute hofiere ich die Unersättliche
und erwarte demütig ihr KO
Einst nagelte ich die Augen ans Himmelszelt
und alle Lust war ein Rätsel
Heute verschließen sich die spröden Lider
und ich knicke beim kleinsten Windstoß ein
Einst hatte ich einen luftigen Lebenswandel
und hielt mich artistisch in der Schwebe
Heute sitze ich auf vier Buchstaben
und erwarte den finalen Zeilenbruch
Einst suchte ich komische Nulpen
und prämierte unbekannte Erscheinungen
Heute führe ich dröge Selbstgespräche
und finde Trost in bedächtigen Gängen
Einst eroberte ich die Akropolis
und weidete auf den Museumsfluren
Heute erbaue ich mich an Bionella-Toasts
und freue mich auf den Verdauungsschlaf
Einst schätzte ich die luzide Klarheit
und die Augen erfassten die Konturen
Heute präferiere ich die Benommenheit
und tauche ein in ominöse Nebel
Einst widmete ich der Liebe irre Kopfsprünge
und nimmersatt war mein Hunger
Heute liege ich zeitig flach
und Sex ist eine Fußnote
Einst gierte ich nach Gewaltmärschen
und einer Vergeudung der Kräfte
Heute favorisiere ich den Winterschlaf
und Entsagung quittiert jedes Bemühen
VI
Einst war ich mir wundersam vertraut
und die Säfte stiegen prompt und unaufhörlich
Heute bin ich mein eigener Gegenspieler
und kein Land ist mehr in Sicht
Einst lachte ich über die Blühpausen eines Babyboomers
und startete umstandslos durch
Heute dreht sich nichts mehr um mich
und die Jahre der sich auswölbenden Mitte beginnen
Einst hieß es in dubio pro libido
und ich flirtete ohne Unterlass
Heute lauert der generelle Verdacht
und ich erwidere keinen Aufschlag
Einst warf ich Schatten ohne Scham
und wütete vor Verlangen
Heute dünge ich meine Träume
und hoffe auf himmlische Längen
Einst war ich allzeit just in touch
und konnte die Finger nicht zähmen
Heute gehe ich mit Abstand durchs Leben
und präsentiere Nabelschauen
Einst sagte ich oft Aha
und machte nichts als Oho
Heute denke ich das Alpha
und mutiere doch zum Omega
Einst hatte ich die Zukunft gepachtet
und packte ganze Schlachten in meine Taschen
Heute entblöße ich kaum einen Muskel
und der große Zapfen streicht nicht mehr
Einst putzte ich die Klinken
und wartete auf den Vers
Heute setze ich Lettern aufs Papier
und gucke allzu irdisch aus der Wäsche
Einst residierte ich in Poemen
und labte mich an dunklen Stellen
Heute brüte ich über sinistre Lügen
und kein Haar lässt sich mehr spalten
Einst spielte ich mit dem Leben
und war mir für nichts zu schade
Heute vergesse ich die Anliegen
und hülle mich in den Mantel der Geschichten
Einst tobten auf meiner Zunge obskure Worte
und ich regierte mit trockenem Humor
Heute meistere ich mit Mühe die Ebenen
und jeder Selbstversuch geht in die Hose
Einst ruhte ich im Schatten hoher Bäume
und ein neuer Roman lag auf meiner Brust
Heute bin ich auf dem Weg des Vergessens
und Tränensäcke baumeln im Gesicht
Einst lenkte ich den Großen Wagen
und fütterte meine Marotten
Heute fehlen dem Himmel die Geigen
und ich spiele Mensch ärgere Dich nicht
Einst nuckelte ich an Muttis Titten
und kehrte den Kleinen Kaiser raus
Heute bin ich ein mieser Scheißer
und meine Tüchtigkeit nimmt ab
Einst war die Zeit zum Verplempern da
und süße Girls lasen mir aus der Hand
Heute bekomme ich lange Stielaugen
und öde Entspannungen sind die Regel
Einst scheute ich keine Zielgerade
und geizte nicht mit den Kräften
Heute blute ich Angstschweiß aus
und erschlaffe nach dem Startschuss
Einst erlag ich dem Liebreiz ihrer Figur
und besang sie in höchsten Tönen
Heute herrschen ihre Breitseiten vor
und ich hoffe auf die Demission
Einst vögelte ich im Nebel der Rauchgranaten
und unternahm somnabule Gänge
Heute warte ich lustlos in Schlangen
und ziehe garantiert den Kürzeren
Einst ließ ich dutzendweise Meteoriten regnen
und kassierte Maut für das Leuchten der Sterne
Heute ist mir das alles völlig Schnuppe
und die Gelben Engel stehen im Mittelpunkt
Einst legte ich den Tagen kein Zaumzeug an
und verreiste mit Göttern im Koffer
Heute ringe ich überall um Beistand
und das Staunen fällt aus
Einst schmiedete ich Allianzen
und machte fette Beute
Heute häufen sich die Errata
und ich falle in Absencen
Einst hatte all mein Tun Effet
und ich beherrschte jeden Move
Heute fehlt mir der Drive
und ich lasse jede Chance liegen
VII
Einst vibrierte ich vor Anfängen
und nichts hinderte das Beginnen
Heute schwimme ich mit dem Strom
und Planken gewähren mir Rast
Einst hörte ich die Flöhe husten
und hatte Augen wie ein Luchs
Heute bin ich blind wie ein Maulwurf
und man schilt mich eine taube Nuss
Einst durchschoss ich mit Sonnenfäden meine Texte
und gab dem Affen Zucker
Heute sage ich ja zur eigenen Ödnis
und trage meine Bürde mit Fassung
Einst frönte ich dem Nacktbaden
und kaum ein Auge blieb trocken
Heute sind Figur und Haut erschlafft
und jeder Schall ist eine Schelte
Einst kam ich kaum ins Stocken
und brauchte keine Atempause
Heute halte ich die Hände still
und die Klöten gehen wandern
Einst verdichtete ich den Raum
und gab den Gigolo zwischen den Linien
Heute bevorzuge ich den ruhenden Ball
und tauge nur zum Libero
Einst durchlief ein Zittern meinen Körper
und ich dribbelte durch feuchte Träume
Heute rührt mein Stöhnen nur die Wanzen
und ich gedenke der Zufälle in den Laken
Einst lobten ein Dutzend Münder meine Statur
und ich wiegte mich in eitlem Muskelspiel
Heute braucht jeder Schritt eine Stütze
und ich verschweige meine Not
Einst war ich ein übler Draufgänger
und schickte Salven ins Getümmel
Heute mime ich den toten Mann
und meine Stimme sucht das Weite
Einst stürzte ich Medias in res
und trotzte allen Widerständen
Heute hege ich sanfte Phantasien
und surfe in Mediatheken
Einst suchte ich im Schoß die Quadratur des Kreises
und beteiligte mich am Karneval der Triebe
Heute erleide ich die Torturen eines Greises
und verpasse die Akte beim Dösen
Einst glühte ich fiebernackt im heißen Wind
und lief in schamloser Freude umher
Heute sinniere ich über das Reich des Unmöglichen
und verwalte das Archiv meiner Einbußen
Einst verschob ich die Horizonte
und verlor den Boden unter den Füßen
Heute laufe ich auf Grund
und nichts wiegt mich auf
Einst sah ich im Holz Gesichter mit Hundeohren
und jede Wolke barg fabulöse Gestalten
Heute nährt mich kein Buchstabensalat
und ich winde Figuren ins Leere
Einst sortierte ich die Karten immer neu
und die Joker vermehrten meine Chancen
Heute mogele ich mich durch triste Partien
und kein Mischen heitert mich auf
Einst hätschelte ich meine Neugier
und witterte überall Beute
Heute bin ich ein lahmer Arsch
und spiele nur noch auf Zeit
Einst fielen mir die Schuppen von den Augen
und ich sang von der Leuchtkraft der Dinge
Heute streiken alle meine Sinne
und ich himmle die reinsten Höllen an
Einst hielt jeder Zaunpfahl einen Traum bereit
und ich verkehrte mit dunklen Schönheiten
Heute schmarotze ich von der Tatkraft anderer
und jede Hoffnung ist eitel
Einst hatte ich an jeder Hand einen Silberfuchs
und rezitierte aus dem Stand ein paar Zeilen
Heute hege ich keine Gala-Träume mehr
und jede Tuchfühlung mit dem Labenden bleibt aus
Einst lebte ich jenseits von Fehden
und war voller libidöser Erwartungen
Heute erbreche ich schon am Morgen die Flaschen
und verkrieche mich in künstliche Paradiese
Einst kämpfte ich mit Haken und Ösen
und alles zog mich zur offenen See
Heute schnüre ich ohne Geschick meine Zeilen
und die Lemmata gehen mir aus
Einst hatte ich schöne Tage im Hause der Freibeuter
und es herrschte in jedem Zimmer tiefer Friede
Heute kehre ich nur noch langsam heim
und in jeder Ecke wartet das Taedium vitae
Einst lebte ich im Wonnemonat der Zitate
und die Strophen blühten unermüdlich
Heute muss ich mir die Verse selber schmieden
und mein Schreiben ist der Rede nicht wert
Einst verpasste ich keinen Szenenwechsel
und das Spielen ohne Regeln fiel mir leicht
Heute findet mich kaum ein glücklicher Zufall
und ich verkümmere hinter staubigen Kulissen
Einst kannte ich kein Lampenfieber
und die Worte purzelten mir aus den Ärmeln
Heute zerbreche ich mir vergebens die Birne
und in jedem Satz lauert die Melankomik
…
Ist es gegen die Zeit, gegen den Tod selbst, / gegen all das, was strömt, / dass Menschen diese Mauer von Zeichen errichten, / die sich ängstlich ineinander verhaken?
(Lars Gustafsson)
Nach einem hohlen Baum dreht sich
Kein Weib um weit und breit;
Die Schönen, die ich einst geliebt,
An die denk ich noch heut;
Ich spuck ihr dreist ins Angesicht,
Die mich verbog, der Zeit.
There’s not a woman turns her face
Upon a broken tree,
And yet the beauties that I loved
Are in my memory;
I spit into the face of Time
That has transfigured me.
(W.B. Yeats)