Tranches de vie XXVI

Am Morgen döste ich auf der Liege und hörte das Klassikprogramm des Senders meines Vertrauens. Es waren soeben die Gymnopédies von Eric Satie verklungen und ich rechnete nicht mehr damit, dass meine Lebensgeister erwachten, als in direktem Anschluss ein Musikstück erklang, bei dem mir mitnichten vergönnt war, bewegungslos nur zu lauschen und eine ruhige Kugel zu schieben, nein, ein hämmernder Rhythmus fuhr in meine müden Glieder, auf- und absteigende Melodielinien ließen Bilder von Kraft und Ausdauer in mir entstehen. Einem Weckruf gleich forderte mich diese musikalische Dynamik heraus, nicht mehr nur zuzuhören, sondern selbst in körperliche Bewegung zu geraten. So setzte ich mich im Geiste auf ein Fahrrad und erhöhte zunehmend das Tempo. Der erste Schweiß tropfte gerade auf die Dielen, als das Musikstück auch schon wieder zu Ende war. Ein ungeheures Tutti erklang, dann folgte eine lange Pause, in der ich das Fenster öffnete und die Perlen auf meiner Stirn von der Luft trocknen ließ. Nun war ich wach, und nach einem kräftigen Frühstück startete ich unter einem grau verhangenen Himmel meine obligate Runde. Hinter dem Allerwertesten einer Frau mit blonden Haaren hielt ich mich nicht lange genug auf, um mir ihre Vorderseite zusammenzureimen, ich war zu eilig unterwegs und flugs hatte ich sie überholt. Beim Umdrehen sah ich einige Sekunden in ein Gesicht, das zu beschreiben meinen Wortschatz überschreitet, so über alles Maß hinaus hatte es jede vertraute Form verloren, so fluide und wandelbar erschien es mir, dass kein Wettrennen meiner Sätze es hätte einholen können, so unmenschlich fern muteten mich seine Züge an. Ich konnte nur die Lider senken und offenen Mundes weiterschleichen. Wenig später saß ich am Planetarium einer anderen Frau gegenüber, deren roter Haarschopf ein erschütternd blasses Gesicht rahmten. Ihr Blick war gedankenverloren, unnahbar, auch wegen einer unbestimmten Trauer, welche die Gesichtszüge wie ein Firnis überzog. Jedenfalls schlug mich diese junge Frau mit ihrer melancholischen Schönheit in Bann, so dass ich alles, inklusive mich selbst, vergaß und für Momente allein mit Starren beschäftigt war, bis sie ihren Kopf hob und ihr Blick ins Schwarze meiner Wünsche traf. Verlegen und beglückt zugleich wendete ich mich ab, da jede Ansprache nur ihre Aura zerstört hätte. Auf dem Weg zum nahegelegenen Café flackerten die Nachbilder ihres Zaubers vor meinem inneren Auge weiter. Einige Gäste hingen an den Tischen im Freien ab und hofften wohl insgeheim, wie ich mir ausmalte, beim nächsten Bissen Kuchen ihre Sorgen, in groben Zügen, zu vergessen. Niemand sprach, und so konnte ich jede Menge Gedanken fassen oder besser: laufen lassen. Als die Wolkendecke aufriss und es plötzlich heller wurde, trank ich aus und ging weiter. Zwischen den Bäumen ergatterte ich etwas Sonne, kramte den Edding aus der Tasche und verzierte die Holzlehnen der Bänke mit Wortbordüren, die mir in den Sinn kamen. Zuhause begrüßte mich die Vertraute meines Lebens mit einem unbedenklichen Lächeln. Ich schloss die Augen und unterlag der Phantasie, mit ihr gleich eine Liebesszene synchronisieren zu dürfen -, aber das gehört nicht in dieses Notat: Man weiß ja nie, wer hier mitliest.

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