Tranches de vie XI

Bei bestem, kaltem Strahlewetter mache ich eine kleine Tour durch ein Villenviertel an der Alster, heute mit dem Minimax an meiner Seite. – Auf dem Weg dahin kommen wir in einer Geschäftsstraße an einem Luxus-Friseur mit Sesseln und Liegen von Mies vorbei. In minikleiner Schrift sind die unverschämten Preise an die Glaswände geheftet. Auf den chrombebeinten, schwarzen Tischen liegen die neuesten Kataloge der Mainstream-Ausstellungen. Stolze Orchideen wachsen in Vasen aus dem Marmorboden, Kristalllüster verbreiten noblen Lichterglanz, ein Zebrafell bedeckt die Mitte des Bodens, und in einem Chromständer hängt ein Riesenglobus, der sich ganz langsam dreht. Die Waschzone ist an den Rand gedrängt, die Frisierstühle stehen frei im Raum, die Spiegel ebenfalls. Der modebewusste Friseur schneidet nicht, sondern reißt die Haare nach einer bestimmten Methode aus. Heute trägt er ein hautenges T-Shirt mit dem Schriftzug „Cape Town“. Zu meiner Entlastung konnotiere ich: Escape Town. – Ein paar Meter weiter, im Easy Fit-Center, bestimmt das Bodydesign das angegriffene (Selbst-)Bewusstein einiger korpulenter Frauen mittleren Alters. Der heruntergekommene Spielsalon daneben präsentiert in seinem Schaufenster ausrangierte, wild blinkende Automaten neben stark verstaubten, künstlichen Ficus-Bäumen. Das Versprechen einer glatten Haut durch „Epilux“, welches mir eine Massagepraxis macht, kann nur falsch sein, und auch eine „Teint-Korrektur“ kommt mir übertrieben technisch vor. – Angeheitert durch soviel Geschäftsunsinn bringt mich ein Unfall auf einer Straßenkreuzung wieder auf den Boden der geteerten Tatsachen. Nur Blechschäden und auslaufende Flüssigkeiten aus einem Motor. Das Abschleppen wird vom Filius mit Kennerblick genauestens verfolgt, während der Vater dem lasziven Hacken-Klack-Klack eines körperstolzen Twens nachhört. – Beim Weitergehen, nun schon im Protzbauviertel, wende ich mich an einen uns beobachtenden älteren Mann. Auf einen parkenden Mercedes deutend sage ich: „Er liebt die Sterne“ und füge erläuternd hinzu: „An den Autos.“ Beruhigt fasst der Mann seine Lebenserfahrung in den Satz: „Na ja, so hat jeder sein Pläsierchen.“ Ihm zustimmend wende ich mich um und trottele weiter. Gitterzäune schützen die Villen. Die sauber geleckten Vorgärten beherbergen exotische Baumgruppen, in deren Mitte bisweilen geschmacklose Beton- oder Eisenskulpturen platziert wurden. Die Trottoirs sind breit und sauber. An ihren Rändern stehen die langen Reihen der Edelkarossen. Nirgends Unrat, der das stille Bild selbstgenügsamen Reichtums stören könnte. Im Stundentakt fahren Polizeistreifen durch die Straßen. Auf uns kommt ein beinamputierter Greis in seinem Rollstuhl zu. Er hat stark eingefallene Gesichtszüge und sein Yachtkäppi ist verschwitzt. Er wird von einer jungen Frau geschoben und grinst gequält meinen properen Sohnemann an. Wenige Meter weiter sitzt auf einem Balkon ein Asiate in der Sonne, pfeift Mozartmelodien und putzt dabei seine Luxusschuhe. Eine schlanke Frau lädt den Kofferraum ihres SUV aus, kann sich dabei kaum auf ihren blauen Pumps halten. M. hält an und schaut freudig zu, doch sie bleibt stumm bei ihren Verrichtungen. Dabei fällt mir auf, dass Kinder eine Lizenz zum Glotzen haben. Ihre Neugier ist erlaubt und bleibt unbestraft, Erwachsene dagegen müssen Grenzen achten. Ein mobiles Pisshäuschen mit dem Namen „Nonnemann“ lässt mich kurz schmunzeln. Dann sehe ich eine verwachsene alte Frau im Morgenmantel, die still am Panoramafenster ihrer Villa steht und auf die Straße schaut, wo einige MaDamen dummstolz ihren Sonntagspelz spazierenführen. Kalauernd wünsche ich mir mehr Empörkömmlinge. Versöhnlich stimmt mich dagegen das handschriftliche Notat auf einem kleinen Pappzettel, der auf dem Armaturenbrett eines parkenden Autos liegt: „Ich bin schnell wieder zurück, aber ich musste eine behinderte Dame herbringen.“ Diverse PS-starke Wahnmobile am Straßenrand werden vom Nachwuchs bestaunt. Von wem er diese Vorliebe nur hat? Eine junge Farbige putzt stöhnend die kollosale Freitreppe einer Stadtvilla, und schon glänzt mir das Wasser der Außenalster entgegen. Ergomane Jogger im modischen Outfit-for-Fight drehen ihre Runden. Ich wende den Blick ab und entdecke, von M. darauf aufmerksam gemacht, mehrere Dutzend Teichhühner. Aus der Ferne erscheinen mir ihre weißen Schnabelrücken vor dem schwarzen Gefieder wie schwimmende Kommata. – M. trödelt beachtlich, gleicht in seinem Tempo jenen Schildkröten, die Flaneure in früheren Zeiten an Leinen auf ihren Spaziergängen ausführten. Ein piekfeiner Herr kommentiert unser saumseliges Gehen: „Der hat alle Zeit der Welt“, und ich bestätige: „Die habe ich durch ihn auch wieder.“ – Auf dem Rückweg fällt mir ein im Bau befindliches Haus in den Blick, das von einer Plane verhüllt ist. Ich bleibe stehen, denn ihr Rauschen im linden Wind versetzt mich bei geschlossenen Augen ans Meer: Brandung. Ein Ewigkeitsweilchen im Abseits, Glück im Vorstellungswinkel. – Bei meiner Buchhändlerin riskiere ich einen kurzen Blick in die Ramschkiste, angele Henry de Montherlants „Tagebücher“ heraus und lese zufällig den Satz: „Jemand sagte zu mir, es gehöre Charakterstärke dazu, den Kopf in den Sand zu stecken.“ Ich entschließe mich, es zu kaufen. Frau D., die Buchhändlerin, jedoch schenkt es mir, und ich fühle mich ertappt.- Kurz vor unserer Wohnung beobachte ich noch einen forschen Teeniejungen mit Earphones beim Brunfttanz vor einer ausnehmend schönen Inderin. Diese genießt die semiprofessionelle Werbeveranstaltung nur in Maßen und leckt gelangweilt an ihrer Kippe. Zwei Frauen im Power Suit staunen den rosigen Minimann an und eine ruft aus: „Ein wahres Bilderbuchkind.“ Mit einem Lächeln quittiere ich diese Bemerkung, mache ihnen Platz und werde von ihrer Parfümwolke eingehüllt. Nicht aber diese, sondern eine grauschwarze Steppdecke verdunkelt den Himmel. Kurz vor der Einkehr fängt das leichte Gestöber der Weißröckchen an. Wetterwendigkeit. Wir lassen unsere Gesichter sich noch ein wenig von den Flocken kitzeln und treten dann den Aufstieg an: Nichts ist nach so einer Runde schwieriger. Klappe zu – für heute.

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4 Antworten auf Tranches de vie XI

  1. Sofasophia sagt:

    oh, du malst ja auch wortbilder. schön. liest sich bunt und am schluss schneeflockig. wie viel es zu sehen und zu erleben gibt, wenn die sinne offen sind. und die unsinne ebenfalls … 🙂 dir und deinem bilderbuchkind wünsch ich noch viele solche spaziererlebnisse.
    liebe grüße, soso

  2. haushundhirschblog sagt:

    Jetzt sind wir also auch mal durch ein Villenviertel in Hamburg geschlendert. Mitgeschlendert. Die länger zurückliegenden Hamburg-Eindrücke stammen aus St. Georg. Aber das ist tatsächlich eine ganz andere Geschichte.
    Ein schöner Text!

  3. Josef Broger sagt:

    Während ich diese Geschichte lese, läuft im Hintergrund der Elvis-Song: It’s now or never. Das ergibt eine Superstimmung,
    gruss, josef

  4. URotewelt sagt:

    Ich bin gern mitgeschlendert und habe mir die Bilder dazu gemacht. Ich liebe dieses Umherschweifen, das Flanieren auch sehr.

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