Tranches de vie II

Am Morgen überrascht mich eine ungeheure Lichtfülle. Blendend heller Sonnenschein, ein geistiges Vademecum. Den Verhörer bei den Radionachrichten, wo ich Hohndumping statt Lohndumping verstehe, nehme ich als Mahnung für diesen Tag mit auf meine Runde. – Im Heckfenster eines schrottreifen Kleinbusses entdecke ich einen handgeschriebenen Zettel: „Kirchlicher Fahrdienst im Einsatz. Bitte nicht hupen!“ Caritative Spiritualität sollte man nicht unnötig aus der Ruhe bringen. – Auf dem Boden liegt ein Kalenderblatt, ich hebe es auf und lese im Stehen: Ein Mann geht in ein Restaurant und bestellt sich gebackene Kartoffeln. Als sie serviert werden, findet er sie nicht ansehnlich, lässt sie zurückgehen und verlangt nun kleine Frühlingsrollen mit Käsefüllung. Als er mit dem Essen fertig ist, steht er auf und will gehen. „Einen Augenblick bitte“, sagt der Kellner, „Sie haben Ihre Frühlingsrollen noch nicht bezahlt.“ „Wovon reden Sie?“, entgegnet der Mann. „Diese Frühlingsrollen waren lediglich ein Ersatz für die gebackenen Kartoffeln, die ich wieder zurückgehen ließ.“ „Ja, aber für die haben Sie ja auch nicht bezahlt?, meint der Kellner, nun sichtlich erregt. Doch der Mann returniert gelassen: „Warum sollte ich die gebackenen Kartoffeln denn auch bezahlen? Ich habe sie ja nicht gegessen.“ Ein Zechpreller mit einer bestechenden Logik. Ins Allgemeine gewendet, steckt aber eine bedenkenswerte Frage dahinter: Wer nämlich für den vielen Ersatz im eigenen Leben aufkommt? Und von diesem gibt es in jedem die Fülle. Was einem so zufällt, auf den Wegen. Quertreibende Deutungsangebote. – Wenig später streife ich den Stadtpark. Dort springen mir die samtig grün in der Sonne leuchtenden Baumrinden in die Augen. Geschnittenes Astwerk ist am Wegesrand gestapelt. Vereinzelt kommen mir Jogger mit und ohne Bart entgegen, und eine walkende Rentnerschar, aus deren Mitte ich das Satzfragment „schlau machen über die grünen Damen“ vernehme. Bevor ich länger über seinen Sinn ins Grübeln gerate, lenkt mich der ornamentale Graffitikitsch ab, der die strenge Tektonik einer Backsteinwand am Ausgang wie eine glänzende Silberhaut überzieht. – Ich schlendere an einem „SpaceArtCenter“ vorbei, in dem „TranceEvents“ angeboten werden. Amüsiert über diese „multikreative“ Erlebnishilfestellung erfreue ich mich am Anblick einer gewöhnlichen Plastiktüte, die durch den böigen Wind aufgeblasen und auf die Straße gefegt wird. Dort überfährt sie ein Lkw mit einem hellen Ton, durch den einige Passanten erschrocken ihren Gang unterbrechen und innehalten. – Die Auslage eines Buchladens lasse ich unbesehen links liegen und trotte weiter durch verminte Grünanlagen, überhole einen übergewichtigen Briefträger mit hochrotem Kopf und honiggelbem Bürstenschnitt und treffe in einer Einkaufsstraße auf rastlose Beauty-People beim Konsumglücksspiel. Jede Menge öde Pussies. Ohne Hohn geht es wohl auch heute nicht. – An einer Baustelle beneide ich für einige Momente den Kranführer wegen seiner Übersicht, mit der er das Wimmelleben unter sich zu betrachten in der Lage ist. Das Wort „Tageszulassung“ in dem Schaufenster eines Autohauses führt mich zu einer Instant-Meditation über Tage mit und ohne Zulassung. Für was? Etwas loslassen, sich gehenlassen, andere fallenlassen, alles oder nichts zulassen. Zu welchem Ende? – Ich gönne mir drei Quarkbällchen und gehe zum Kanal. Dort weise ich einen Vertreter der Generation Golf beim Parken ein und erhalte ein geschäftsmüdes Lächeln als Dankeschön. Parfümbomen explodieren in der Nähe der „Wohnsinn“-Anlagen, wo betuchte und statusbewusste Noch-nicht-Mütter ihren Nachwuchs in spe stolzgeschwellt vor sich hertragen und angeekelt den Blick abwenden von dem Schauspiel, das sich an der nahe gelegenen Ampel ereignet. Dort taumelt ein junger Mann unruhig umher. Er versucht offenbar mit seiner rechten Hand aus der Hosentasche ein paar Münzen zu fischen. Eine ewiglange Minute verbringt er mit dieser Tätigkeit in einer unbequemen, stark wankenden Körperhaltung. Als er sich aufrichtet, sehe ich, dass eine rauchende Zigarette lose in seinem halboffenen Mund hängt. Er nimmt die beiden neben ihm stehenden Bierflaschen an sich und torkelt bei Rot über die Straße. Von keinem Auto erwischt, doch von vielen Umstehenden ungläubig und missgünstig beobachtet, erreicht er unversehrt die andere Seite. Eine Suffruine, die um die nächste Ecke biegt und meinen Blicken entschwindet. Kurz muss ich an den Zechpreller zurückdenken und wundere mich über den passgenauen Schriftzug, den ich unvermutet auf einem Mülleimer zu lesen bekomme: „Drink your Beer and Mosh“. – Zuletzt sehe ich einen „ReadyMix“-Lkw, was mich freudig heimkehren lässt, da dieser Slogan an meine Augenreisen im Alltag erinnert: ein ständiger Wechsel der Szenen, in die man nicht eintritt, zwischen Sehen, Würdigen und Loslassen pendelnd, einzig betreut von den eigenen Assoziationen, mit dem Vorteil, weder vollkommen zufrieden noch wirklich enttäuscht zu sein.

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2 Antworten auf Tranches de vie II

  1. walter sagt:

    Dankeschön für deine Bonmots, die mehr als ein lächeln hervorgezaubert haben!

  2. Uwe sagt:

    Danke für Deine Reaktion. Es ist nur ein Destillat einer einstündigen Bummelrunde, mehr geht ohnehin nicht. Es gibt immer mehr zu sehen und zu erfahren als man registrieren und verwörtern kann. Das ist auch gut so. Es bleiben noch genug offene Anfänge übrig, und bisweilen kommen mir auch noch nachträglich Bilder in den Sinn von früheren Runden. Es ist immer ein Gehen mit offenem Visier, wobei die Spurenlese dann nur das Wenige aufnimmt, dass in einer kalkulierten Art und Weise ins Carnet spirale, das ich bei mir habe, übertragen und später am Rechner in Form gebracht wird. Diese allerdings soll den abrupten Szenenwechseln beim Unterwegssein Rechnung tragen, daher die harten Schnitte und die meist nur kurzen kommentierenden Bemerkungen.

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