Am Morgen lass ich mir von Händels musikalischem Drive den inneren Wachstumsmotor anschmeißen und blicke schicksalstrotzig dem beginnenden Tag entgegen, freue mich auf dessen Unerschöpflichkeit. PReisende soll man nicht aufhalten, und so mache ich mich später auf den Weg. – Gleich um die Ecke staune ich das ausdrucksstarke Fenster einer Wohnung im Parterre an. Altersgraue Vorhänge mit Mottenlöchern verbergen notdürftig das Innere. Eine Vase mit dem Schriftzug „Gut Holz“ steht auf der Fensterbank, darin staubbedeckte Kunstblumen aus buntfarbigem Plastik. An den Wänden der Fensternische hängt Flohmarkt-Nippes jedweder Art, vor allem aber billig gerahmte Kunstdrucke mit Genreszenen und Trinksprüchen. Wie sieht wohl die Wohnhöhle hinter diesem Fenster aus? – Ein stark verschmutzer Fetzen Papier fliegt mir vor die Füße. Es scheint der Beginn eines pornografischen Textes zu sein, denn nach dem Titel „Ein unverhoffter Dreier“ sind noch die fragmentarischen Sätze zu lesen: „… dass wir eine Frau zu zweit verwöhnt hatten … rumorte schon eine ganze Weile in meiner Hose … wie heftig er in ihrer Faust pochte … ein Stups für helle Aufregung sorgt … oh, könnte ich jetzt sehen …“ Gerade die Lücken schaffen Spannung, gewähren ein kurzes Glück im Vorstellungswinkel. – Das jedoch schnell wieder verlischt, denn schon muss ich mein Tempo einer vor mir gehenden Frau mittleren Alters anpassen, die eigentlich eher schleicht. Sie trägt ein Stofftier in ihrem rechten Arm und eine Plastiktüte in ihrer linken Hand. Ihre Haare sind leicht zerzaust. Bisweilen deutet sie mit ihrer rechten Hand auf den Boden, bleibt dann stehen und flüstert Worte, die ich nicht verstehen kann, da ihre Fistelstimme sehr hoch ist und die Worte wie kurze Schreie erscheinen lässt. Ich folge ihr ein wenig und überhole sie beim italienischen Café, wo sie sich gelbe Limonade bestellen und diese mit einem Strohhalm trinken wird, wie ich aus früheren Begegnungen erinnere. – Ich trotte weiter an nass glänzenden Rinden vorbei, deren hell schimmernde Grautöne mir wie die Vorbereitung auf den Verleser vorkommen, der mir bei einem Optiker unterläuft: Sehtrost statt Sehtest. Auf irgendeine Weise muss das mir Zufallende mit mir und meiner jeweiligen Tagesstimmung verbunden sein. Oder ist das alles nur Spiegelfechterei? Egal, eine Erwartungshaltung liegt allemal vor, eine, die meine Sinne scharfstellt und mit denen ich nun den Lokalpromi VL mit seinem Hund auf einer Bank sitzen sehe. Unrasiert und mit offenen Schnürsenkeln macht er einen gemäßigt schlampigen Eindruck. In der einen Hand hält er ein Manuskript, in das er ab und an hineinschaut, um dann daraus einige Stellen in geübter Diktion seinem Hund vorzulesen, der es ihm mit aufgestellten Ohren dankt. – Ein Verkehrsschild rät „Bei Bedarf Gehörschutz tragen“, was ich mir nicht zu Herzen nehme, denn so könnten einem ja die Redefusseln der Passanten entgehen: „Der war immer an der Kandarre“, „Hast Du einen Schlüssel?“, „Dass der Körper immer basisch sein sollte“, „Wenn ich da an meine Oma denke“, „Thank you, I’m dying“ – letzteres löst eine kleine Angstlust bei mir aus, und ich rätsele kurz über die mögliche Frage zu dieser Antwort. – Die Tristesse des „Holsten-Krugs“ schafft keine Ablenkung. Zwei riesige Schaufenster mit vergilbten Vorhängen, schmutzigen Teppichresten und darauf, wahllos verteilt, Kunstblumen ohne Blüten. Im Inneren blinkt „Moravia-Pils“ über leeren Tischen mit roten Deckchen und alten Bierdeckelhaltern. Das Polstergestühl ist löchrig und verkommen, abgesessen, doch kein Gast ist zu sehen im dunklen Thekenraum. Ämtyness, ein Bild der Verlassenheit, die Tür aber steht sperrangelweit offen, bereit für Verlorene jeden Geschlechts und Alters. – Langsam hellt sich das Milchglaslicht auf, die schwüle Luft ist zum Greifen nah, die drängende Hitze spürbar als Schweißfilm auf dem Körper, Altpapierfluten liegen überall in den Wasserpfützen rum, Zeitungsfetzen, die sich in Dornenhecken verfangen haben. In einem Türeingang sehe ich immerhin rote Rosen in einer blauen Thermoskanne stehen, und ich höre beim Einbiegen in meine Straße den Satz eines Schülers: „Es gibt keinen ohne Schwächen. Für jeden tritt einmal der Fall ein, wo er abschreiben muss.“ Und so beende ich diese Runde mit einem alten Mann, der eine schwärmerische Weise geigt, direkt vor jenem aussdrucksstarken Fenster, dass ich vor einer Stunde bestaunte. Ist das Leben nicht sonderbar?!
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Die hier veröffentlichten Fotos entstehen allesamt beim Spazierengehen. Sie zeigen zufällig in mein Blickfeld geratene und mit der Kamera festgehaltene Motive. Es geht mir bei diesen Augenblicksaufnahmen um eine Zwiesprache mit dem Sichtbaren, in der etwas scheinbar Vertrautes und Alltägliches ins Befremdliche oder Überraschende kippen kann. Alle Besucher sind herzlich eingeladen, ihre eigene deutende Fantasie tätig werden zu lassen und die Fotos zu kommentieren.Kategorien
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