Tranches de vie VIII

Am frühen Morgen: Brain Blues. Da hilft kein Händel, eher schon ein Kaffee, auf der Loggia eingenommen, in frischer Luft und mit einer Nebelsonne, die sich durchs lichte Grau des Himmels bohrt. Glocken läuten zur Morgenandacht, das Müllauto biegt in unsere Straße ein, streut orange leuchtendes Blinklicht in die Dämmerung. Eine Sekundeneinkehr, mit der warmen Flüssigkeitssäule in der Kehle und einem süßlichen Nachgeschmack im Mund. Ein der Zeit kurz entrissener Augenblick, zur Hälfte – mindestens – der eigenen Vorstellungskraft geschuldet. – Später das lieb gewonnene Spazieren, an buntfarbigen Laubteppichen und Müllverwehungen vorbei. Mehrere Schichten schwarzbraunen Laubs bilden eine schmutzige Haut auf dem grünen Filzbelag eines gastronomischen Freisitzes. Eine in Rosa gekleidete Frau mit Earphones schenkt mir ein mildes Lächeln, im Vorbeigehen brummt sie eine Liedzeile, von der ich „The man who would…“ mithören kann. Was wird er schon wollen – in den Stadtpark, wie ich.  – Dort, auf den nun lichtdurchfluteten Wegen, herrscht ein reger Austausch von Atemwolken, ausgestoßen von den unermüdlichen Walkern und Joggern bei ihrem alltäglichen Bodyshaping. Ich dagegen schlendere ohne Mühe und Not, freue mich an den farbintensiven Rinden und leuchtenden Blättern, überspringe die parataktisch angeordneten Baumschatten, höre in der Ferne das Lärmen der Spielplatzhirsche, sehe zwei Eichhörnchen beim Umkreisen eines Baumstamms im flotten Tanz ihres Liebespiels zu, und pfeife im Walde unbehelligt vor mich hin, bis ein Gärtnereigehilfe mich überfällt mit einer Suada, wie sie im Buche steht. Offenherzig spricht er von allem, was ihn betrifft. Exalkoholiker, 15 Jahre arbeitslos, und nun bei der Stadtparkreinigung untergekommen. Findet beim Zusammenkehren allerhand, letzthin eine Dose Thunfisch, die er bei der Hamburger Tafel abgegeben hat. Kurios vor allem, wie beiläufig er seine Babyfunde erwähnt. Erst kürzlich will er ein Kind entdeckt haben, dem Erfrieren nahe. Er weiß, was zu tun ist: Babystation. Dort hat er schon vier Kinder abgegeben, allesamt im Stadtpark ausgesetzt. Wenn er in der Station erscheint, wird er mit „Da kommt unser Vater“ begrüßt, wie er stolz mitteilt. Mir gelingt es nicht, dazwischenzugehen mit Nachfragen, gleich legt er wieder los und berichtet, dass er den Schlüssel für die öffentlichen Toiletten im Park besitzt, die er abends abschließen muss, damit die Penner nicht darin nächtigen. Diese rächen sich manchmal, indem sie Glasscherben zwischen die Holzbalken der Bänke legen, die er aber nicht übersieht und entfernt. Er ist eben auch ein Wächter. Ich reiße mich los und denke mir mein Teil, nicht ohne Verständnis dafür zu haben, dass er sich ein Leben zusammenreimt. Mundus est fabula. – Halteverbotsschilder am Wegesrand erinnern mich mit ihrer Internetadresse „Platz-da.de“ an meine morgendliche Miesepertigkeit, und ich gönne mir einen Kaffee Togo mit Butterhörnchen. Störend aber die geschmacklos buntfarbigen Haarsträhnchen der nur mäßig Deutsch sprechenden Verkäuferin, die mir noch dazu einen „verfolgreichen Tag“ wünscht. Aus den Altpapierfluten dringt die Textzeile „Dem Schematismus Geist einhauchen“ zu mir, laute Muzak dröhnt aus den parkenden Autos, ein unangenehmer Zug trifft mich plötzlich beim Vorübergehen an Hinterhofeinfahrten, in denen auf Schildern das Verzehren von Alkohol verboten wird, die nikotingeschwängerte, stickige Luftsäule beim Eingang zu einem Spielecenter ekelt mich, und ich stoße auf einen alten Mann mit Augenbinde, der seinen Gehwagen von einem übergewichtigen Mops mitziehen lässt. Die Untiefen der schlichten Wirklichkeit, aber diese geben dem Tag ein Gesicht, wie auch jene im Stadtteil bekannte Verrückte, die, in heftige Selbstgespräche verwickelt, mir entgegenschleicht und die mich mit der Bitte anspricht: „Könnten Sie mir mit 50 Cent aushelfen?“ Nicht wenig erstaunt über den fehlerfreien Vortrag des Satzes gebe ich ihr mehr als das Verlangte. Sie tapert in den nächsten Hauseingang und verschwindet im dunklen Flur. – Kurz bevor ich einkehre, fängt es bei Sonnenschein an zu regnen und es bildet sich ein überdeutlich sichtbarer Bogen über unserem Haus. Ein befristetes Leuchten, unwirklich fast und von kaum einem bemerkt, und ich meine mich zu erinnern, gestern in einem Buch über die gleichgültige Noblesse des Wetters gelesen zu haben. Mein letzter Blick gilt einem Transporter, der den Schriftzug „Dichtung & Wahrheit – der Sanitätsspezi“ trägt. Ich schmunzle, und für den Rest des Tages ist ein Motto gefunden, mit dem ich einverstanden sein kann. Hoffentlich auch die Herzdame, wenn sie den Nichtsnutz am Abend fragt, wie er denn die Zeit verbracht habe und er innerlich gelöst antworten wird: „Mit Wiederbelebungsversuchen!“

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