Short cuts XX

Ich liege kopfüber im Behandlungsstuhl, das Blut pocht in meinen Schläfen, dazwischen kreisen meine Gedanken im beschwingten Takt der Searchers, die gerade ihr „Don’t throw your love away“ in den Raum dudeln. Sie versucht, das Provisorium herauszubringen, doch es sitzt fest, was mich freut. Denn ich mag es, dieses kleine Ding, das nicht für die Ewigkeit gemacht wurde. Seinen Dienst tat es trotzdem in den letzten Wochen, unangefochten von allen Widrigkeiten, die sich in einer Mundhöhle abspielen können. Ihm zu Ehren verliere ich mehr und mehr die Fassung. Und die Position, in der ich ausharre, macht mich anfällig für einen kurzen Traum hinter geschlossenen Lidern, in dem sie, die langsam ihre Geduld zu verlieren scheint, eine andere Rolle annimmt. Ich sehe uns auf einer Wiese kurzweilige Spielchen treiben, harmlos zunächst und voller Unschuld. Doch dann, im wilden Tanz unserer Glieder, löst sich ihr langes Haar und umfängt mich wie ein Druckverband, der mir die Luft zum Atmen nimmt. Auch das Fantasieren hat seine Härten. Bevor ich mir (m)ein Ende ausmalen muss, landet das Plastikteil auf meiner feuchten Zunge, und ich kehre zurück, röchelnd. Sie nimmt es mit der Pinzette heraus und ich bitte sie, es mir zu geben. Sie stutzt kurz, verzieht die Augenbrauen, bläst in den Mundschutz ein „Aha“ und steckt das Andenken, während sie den Stuhl hochfahren lässt, in eine kleine Tüte. Aufrecht hocke ich da, spüle meinen Mund aus, befühle das Loch mit der Zungenspitze, warte. Ein Haar kitzelt meine trockenen Lippen, ich nehme es zwischen die Finger, spiele damit und warte weiter. Der letzte Ton der Searchers verklingt, als die goldige Krone eingeklebt wird, die mir fürderhin einen harten Gegenbiss bescheren soll. Doch schon auf dem Heimweg, das weiß ich sicher, werde ich dem Provisorium nachtrauern, denn seine vorläufige Form gewährte mehr Spielräume, und das nicht nur den Zähnen.

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4 Antworten auf Short cuts XX

  1. walter sagt:

    Lieber Uwe
    meine Vorfreude auf den nächsten Zahnarztbesuch hast du damit erheblich gesteigert 😉

  2. studio glumm sagt:

    So ein Provisorium ist manchmal mehr als die endgültige Krone, da hast du wohl recht. Warum? Weil der Meister da noch nicht so viel wollte. Da durfte er noch spielen, beim Provisorium. Da hat er dem Leben noch Platz gelassen. Und das alles für den „harten Gegenbiss“.

    • Uwe sagt:

      Das ist wohl wahr, und so wollte ich es verstanden wissen.
      Auch das Schreiben ist ja so ein provisorischer Raum, der uns zu „spielen “ erlaubt.
      Doch das Leben ist anders gewickelt, eine „Aufführung ohne Probe“,
      bei der wir erst auf der Bühne erraten, was das Stück eigentlich soll.
      (siehe: Wislawa Szymborska, Leben im Handumdrehen)

      Gruß Uwe

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