Ein Morgen voller Scheinen, wie gemacht für eine Mitschrift. Windböen fegen in die Bäume, die umfangen werden von einem hohen, weiten Himmel, in dem kleine Wolken hängen und eine Sonne unverdrossen leuchtet. Ich höre im Radio „Beziehungsmüdigkeit“ und muss bei meiner Trottoirrunde flüchtig an nervöse Fingerspitzen denken, die über enthaarte Schenkel gleiten. Nach einer Ecke stürzt mich der Zufall in eine Willige, der ich ein Lächeln reiche, ohne ein Bedenken zu ernten. Herrlich – was für ein Beginn! Und so helfe ich einer alten, gebrechlichen Frau, die vor mir mit ihrem Rollator schleicht, über die Straße hinweg. Ihr „Danke, junger Mann!“ vitalisiert mich die nächsten Schritte, mit denen ich einen Herrn erreiche, der schwer schnaufend von seinem Hund nach vorne gezerrt wird. Beim Passieren raunt er mir ins Ohr, dass sie auf dem Weg zum Frauchen seien, zum nahegelegenen Friedhof, „wo wir alle einmal landen werden“, wie er mich wissen lässt. Musste das sein, an diesem der Sonne zugewandten Tag? Aber bisweilen denke ich, dass man mir die Aufzeichnungslust ansieht, mit der ich die Straßen durchstreife, und so soll auch dieser Jubeldämpfer notiert sein. Nach diesem traurigen Zwischenfall kommt mir eine über die Maßen kleine und schöne Asiatin wie ein Geschenk vor, die mit ihrem verträumten Lächeln die Backsteinfassaden und mein Gemüt erhellt. Ich höre beim Vorübergehen, wie der feste Hosenstoff an ihren Beinen reibt und muss über die Lichtjahre schmunzeln, die mich von ihr trennen. Ich schaue ihr ohne jede Begierde nach, mit der angespannten Aufmerksamkeit, die ich bräuchte, um auf einem schmalen Brückengeländer zu balancieren. Doch das Gehupe eines Taxis vertreibt mich aus dem Metaphernland und stört zudem die Ruhe, die bis dahin auf dem sonnenbefleckten Gras des Kirchgartens herrschte, an dem ich gerade vorüberschlendere. Wenig später sehe ich auf einem verwilderten Gelände einen Haufen quietschfideler Kinder, die sich mit faulen Äpfeln bewerfen. Manche kicken sie mit ihren Füßen, und in die Nase steigt mir ein modrig-süßlicher Geruch, der sich mit der Parfümwolke mischt, die eine Horde johlender Teenies am Kanal umgibt. Dort entdecke ich eine tote Taube, die wie eingewebt in einen grün-braunen Teppich aus Blättern auf dem Wasser vorübertreibt. Und wie bestellt, trifft mich darauf noch ein peinvoller Anblick: Ein beinamutierter Greis mit eingefallenen Gesichtszügen und tiefen, dunkel umrandeten Augenhöhlen wird von einer Frau mittleren Alters in einem Rollstuhl geschoben. Seine Miene ist verschlossen, abgekehrt, nichts scheint ihn zu erreichen, so als ob er sagen wollte: Alles wird länger bleiben als ich. Dieses Bild manifester Todesverfallenheit setzt sich fest und lässt sich nicht vertreiben, auch nicht durch einen Farbigen, auf dessen polierter Glatze sich der gleichmütig-blaue Himmel spiegelt (sic!), und selbst nicht durch die Balconette-BH-Ausstellung im Schaufenster des „Miederstübchens“, vor dem ich eine Minuteneinkehr abhalte. Ich muss mir selbst helfen, und so sentänzele ich zur Entlastung automatisch einige Wortfolgen vor mich hin: Chancenhunger, Wolkensegel, Lauersucht, Busenwirt, Schuldballon, Heizkörper … Solcherart beim Gehen von den eigenen Wort- und Gedankenassoziationen abgelenkt, kehre ich langsam und von sonstigem Kram und Gram unbehelligt Heim und gebe hier nur noch eines zu Protokoll: Eine Blondine mit wippendem Pferdeschwanz, die verzweifelt um sich schaut, auf der Suche nach spiegelnden Flächen, in denen sie ihre noch schöne Hülle genießen kann, schenke ich einen erlösenden Blick, und zwar kurz bevor ich in meine Straße einmünde, in der ein Lkw steht, auf dessen Laderampe mir der bemerkenswerte Satz, ach was: das Tagesmotto, nein: das Lebensmotto in die Augen fällt und dort sich in dicken, schwarzen Lettern verteilt: ARBEITEN NUR IM ABGESTÜTZTEN ZUSTAND ERLAUBT! Dieser aus dem Nebenher mir zugeflogenen, fernöstlich anmutenden Weisheit gemäß will ich die nächsten Stunden verbringen, gestützt von den beiden Lehnen des Lesesessels, in dem ich auf der Stelle sitzend nur noch den Schriftzügen eines guten Freundes folgen werde, die im Lichtkegel einer Lampe auftauchen, denn unterdessen hat das morgendliche Scheinen ein Ende gefunden – wie auch dieses Notat.
genial geschrieben.
das tages-, ähm lebensmotto muss ich mir merken. obwohl … ich las zuerst: „abgestürztem zustand“. 🙂