Tranches de vie XXIII

Ich ahne, dass es sinnlos ist weiterzugehen. Niemand kreuzt meinen Weg, kein Laut erreicht mich, kein Blick, den man tauschen kann, leere Kulissen allerorten, wie ausgestorben die Straßen und Plätze. Es ist fatal, alles könnte hier enden -, doch plötzlich höre ich etwas, das einem Schnippen mit den Fingern gleicht. Und dann nochmal und nochmal, und mit einem Schlag ist es laut und wuselig um mich. Ich komme kaum vorwärts, überall Leiber und Stimmen, Gerüche, Töne und fiebrige Glieder. Fast werde ich zerquetscht. Alle scheinen in Aufruhr geraten zu sein, niemanden hält es an seinem Platz, der Aufbruch ist nicht zu stoppen. Ich werde gedrückt und in wechselnde Richtungen geschoben. Wäre ich ein Frotteur, käme ich voll auf meine Kosten. Bin ich aber nicht, mir sind Friktionen in der Öffentlichkeit eher unangenehm. Auf einmal spüre ich, wie mich eine Hand an der Schulter ergreift. Ich dulde es, da ich merke, wie mich jemand vorsichtig durch die chaotisch wogende Masse zu bugsieren versucht. Das Licht nimmt ab, bis es ganz dunkel ist und ich mich in einem Innenraum befinde. Mein Retter ist verschwunden und ich stoße an etwas Weiches. Ich ertaste einen Sofabezug und setze mich erleichtert hin. Es ist nur noch dumpf pochender Lärm in der Ferne zu hören, dann ist es still. Ich lehne mich zurück, bin erleichtert und schließe die Augen, um mich dem Schlaf anzuvertrauen. Irgendwann werde ich von einem neuerlichen Schnippen geweckt. Es ist immer noch dunkel, ein schwacher Lichtschein weist mir den Weg, dem ich folge, bis eine Tür sich öffnen lässt und ich durch sie hindurch ins Freie trete. Doch was ist geschehen? Bin ich auf einer Mottoparty gelandet? Überall sind Menschen mit Masken zu sehen, die sie über Mund und Nase tragen. In vielerlei Farben, mal mit lustigen Mustern, mal mit apotropäischen Motiven. Die meisten zeigen ein Smiley, welches das verhüllte, echte Lächeln wohl ersetzen soll. Ich schließe mich ihnen an, doch alle weichen mir aus, keiner begegnet mir mit offenem Blick, alle wenden sich ab und gehen auf Distanz. Keine noch so freundliche Geste wird erwidert, kein Ton findet ein Echo, keine Berührung ist erwünscht. Ich bin mit meinem unverstellten Gesicht mitten in dieser den Abstand zelebrierenden Masse einsamer denn je und hoffe inständig auf ein markantes Schnippen. Ein Cut muss her, doch nichts passiert. Dafür nimmt ein Nuscheln überhand. Es wird immer lauter und überrollt mich, ein Nuscheln, das nur mich zu betreffen scheint, ein Nuscheln, durch dass ich veranlasst werde, zu fliehen. Flugs nehme ich die Beine in die Hände und schieße wie ein Slalomfahrer durch die Menge. Bald schon erreiche ich eine plane, menschenleere Fläche, auf der eine hohe Felsnadel aufragt. Beim Besteigen habe ich das Gefühl, eine Ewigkeit zu brauchen, um endlich oben anzugelangen. Dann aber nehme ich auf einer Art Kanzel Platz, atme durch und genieße die ungeheuerliche Ruhe, die über der Ebene liegt. Die Luft riecht nach Sonne, ihre Wärme beglückt mich, und am Horizont sehe ich kleine schwarze Figuren, die wie Trabanten um etwas Kranzförmiges kreisen. Es ist jene Menge von nuschelnden Munasken, vor der ich fliehen musste, und so bin ich froh, weit von diesem, allem Anschein nach rituellen Geschehen entfernt zu sein. Auch nehme ich wahr, dass sich die Masse nicht vom Fleck bewegt, so dass ich mich wohl in Sicherheit wähnen darf. Aber wovon soll ich leben, hier auf dem Ausguck? Es bleiben mir nichts als Fern-Beziehungen, Augen-Blicke und Kopf-Reisen, doch ist deren Kalorienwert zu niedrig, um mich zu ernähren. Und kein Herr in Sicht, der Manna vom Himmel auf seinen Styliten regnen lassen könnte. Es ist abzusehen, dass ich meinen Felsen wieder verlassen und unter Leute gehen muss. Beobachten und Eindrücke speichern, schön und gut, aber auf Dauer fehlt das Geheimnis der Nähe, welches inmitten von anderen entsteht. Und so steige ich behutsam ab, komme auf der Erde an, taumle eine kurze Weile und bekomme langsam wieder Bodenhaftung. Da ich auf Beistand von Oben oder Unten nicht mehr hoffen kann, schnippe ich selbst mit den Fingern, aber nichts tut sich. Ich wiederhole mein Schnippen, diesmal gelingt mir ein regelrechter Knall, und was soll ich sagen, was kann ich schreiben? Nur dies: Ein lauer Wind liebkost meine hohe Stirn und die altvertraute Welt ist wieder da. Der Reigen könnte von neuem beginnen. Es liegt allein an mir. Auf mein Schnippen kommt es an, zumindest hier, zwischen und in den Zeilen dieses Textes.

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4 Antworten auf Tranches de vie XXIII

  1. Francis J sagt:

    eh bien, quel texte ! entre cauchemar et comédie, entre hier et aujourd’hui. et demain peut-être. cette sensation, ces sensations que nous ressentons / affrontons durant cette période inédite, indésirée, insoutenable. l’insoutenable confinement de l’être. c’est, semble-t-il, bien plus insupportable que l’insoutenable légéreté de l’être.
    je n’en peux plus. et nous sommes chaque jour plus nombreux à n’en plus pouvoir. que faire, comme disait Lénine. quelle révolution inventer pour sortir de ce cauchemar ?

  2. Ein stilles Bild. Ein lautes Schnippen. Eine unaufhaltsame Reise. Auf verwaisten Trottoirs. Durch maskierte Menschenmengen. Je näher, desto fremder.

    Der Wind & das Licht aber sind für alle da & sollten am besten unmaskiert genossen werden. Jederzeit & gerade in diesen Zeiten. Und so rennen wir mit dem Wind in das Licht, um anzukommen in einer Zeit, die anders sein wird & uns anders aussehen lassen wird. Und die Revolution wird darin bestehen ihr erneut offen, solidarisch & gemeinsam zu begegnen. Ohne Masken & ganz direkt.

    Danke für diesen wunderbaren Text, Uwe.

    Viele Grüße & weiterhin sichere Straßen, Fritsch.

    • Uwe sagt:

      Danke, Florian, für Deinen wahrhaft erbaulichen Kommentar.
      Für uns gilt ohnehin: das Geheimnis der Nähe, welches inmitten von anderen entsteht, zumal zwischen FREUNDEN!
      Gruß, Uwe

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