Nullachtfünfzehn wird unterschätzt

Die Extreme sind einfach. Lediglich
die Mitte ist ein Rätsel.
(Louise Glück)

Ich setze mich neben den Alten auf die Bank, da ich ihn kenne und aus früheren Begegnungen weiß, dass er gleich eine Weile extemporieren wird. Kaum habe ich meine Ohren ausgerichtet, legt er auch schon los: „Was soll das eigentlich, dieser Widerwille gegen den Durchschnitt, diese Angst vor dem Nullachtfünfzehn?“, fragt er, um dann noch einmal tief Luft zu holen und weiter wie gedruckt fortzufahren: „Dieses Nullachtfünfzehn, so die gängige Auslegung im Duden, meint bar jeglicher Originalität, bar jeder persönlichen Note. Bezogen auf die Führung des Lebens bedeutet es eines, das auf ein alltäglich gewordenes Muster, auf Konventionen festgelegt ist, das sich in der Wiederholung eingerichtet hat, sie sogar pflegt, und die Macht der Gewohnheit anerkennt. Und in der Tat ist es doch so, dass wir die meiste Zeit damit verbringen, nicht im Sterben zu liegen. Weder werden wir von einer Fremden verführt oder von einem Ringer gewürgt, noch von einem Selbstmordattentäter angefallen. Das Mammut bleibt unsichtbar, der Tiger ertrinkt im Tank. Nur weniges geht so aus, wie es mit hehren Motiven geplant wurde. Das Leben ist kein Mysterienspiel. In der Regel trotten wir doch alle im Nebel banaler Ereignisse dahin, verbringen die meiste Zeit in einer Weise, die im Grunde langweilig ist. Wir erreichen selten die Gipfel klarer Gedanken, schwimmen nicht oft im Meer der reinen Konzentration, halten es kaum auf der Wiese der Erkenntnis aus. Stattdessen tummeln wir uns in gemäßigten Zonen und wollen doch, dass jeder Seiltanz ohne Absicherung ausgeführt wird, wollen unsere Grenzen übersteigen, wollen interessant und einmalig erscheinen. Die Vorstellungen vom erstrebenswerten Leben sprießen, aber die Möglichkeiten, es zu verwirklichen, welken, und so pendelt man sich ein. Aber ist das nur schlecht? Ist das nur ein Niedergehen, ein Nachlassen, ein Versiegen? Kann es nicht auch ein modus vivendi sein, dieses ruhige, aufregungslose Leben in mittlerer Lage, ohne besondere Höhen oder Tiefen? Dieses platte Leben, in dem man ohne falsche Hoffnungen seine kleine Aufgabe erfüllt, ist genauso anstrengend wie ein abenteuerliches. Gut gefedert und leise durch die Tage kommen zu wollen: Was spricht gegen diesen Wunsch? Damit meine ich nicht eine gepolsterte Futteralexistenz, die sich allenthalben wegduckt, sondern ein Leben jenseits der Extreme, ein Leben, das seine Halbheiten akzeptiert, seine Gewohnheiten, Routinen und seichten Stellen, auch seine Eintönigkeit – ein Leben im Lauen. Warum immer diese Lust nach feurigen Stichen, warum diese Sehnsucht nach Erregungsspitzen, nach Schmerz und Überforderung? Warum nicht als Toter Mann im Pool rumdümpeln? Es geht um Selbstgenügsamkeit, um die Wonnen der Gewöhnlichkeit, um ein brav schnurrendes Dasein jenseits der leidenschaftlichen Dramen oder Ekstasen. Nicht partout über sich hinauswollen, sondern bei sich bleiben, auf dem eigenen kleinen Grund und Boden. Auch ein solch geregeltes Durchschnittsdasein erfordert Tapferkeit, denn nur sie ermöglicht es, in seiner Banalität keinerlei Skandal zu sehen. Eine geradezu heroische Haltung ist vonnöten, um ein solch rechtschaffenes Allerweltsleben führen zu können. Auch so ein gemäßigtes Dasein ohne Glanz und Gloria will erst einmal gelebt sein. Nicht immer das Extreme wagen, sondern die Mitte finden, die Ausgeglichenheit: Nicht sich gehenlassen, sondern sich behalten wollen, nicht immer neue Nervenkitzel riskieren, sondern mit heiler Haut davonkommen.“ Ich bin ein wenig überrascht, da die rhetorische Prunkrede abrupt endet. Es kommt mir vor, als wäre ich aus einem kurzen Schlaf aufgeschreckt und kann nun vor lauter Benommenheit kaum einen Satz von mir geben. Nach wenigen Augenblicken schüttele ich mich und schaue aufs Wasser. Und während ich das tue, breitet sich in mir ein Gefühl der Ergebenheit aus. Es muss nicht immer was los sein, es müssen nicht ständig Funken geschlagen werden, denke ich, besänftige also deinen Ehrgeiz, mäßige deine Ambitionen, kehre in dich – das wenigstens habe ich als Summa von diesem schier endlosen Soliloquium zurückbehalten, dessen Sprecher sich inzwischen in Luft aufgelöst hat. Und so bleibe ich sitzen, genieße die wärmende Sonne auf meinen geschlossenen Augenlidern und simmeliere über das Gehörte.

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