Tranches de vie XXX oder: Alltag und andere Unhöflichkeiten

Im besten Fall wirst du, mein Text, mit Lust gelesen und womöglich sogar kommentiert. Im ungünstigen Fall nimmt man dich nur flüchtig zur Kenntnis und vergisst dich sofort. Auch möglich wäre, dass ich dich verfasse und danach wieder vernichte. Oder du verschwindest ungeschrieben in einer Ecke meines Gedächtnisses, wo du dich zufrieden niederlässt und mir in guter Erinnerung bleibst, bis eines schönen Tages – h e u t e – der Fall eintritt, dass ich dich doch veröffentliche, wohlwissend, dass es sich hierbei um ein paar Schaumkrönchen mehr auf dem digitalen Meer der Bedeutungslosigkeit handelt:

Ich kenne ihn, den traurigen Alten, der heute seine Zeit damit zu vertreiben versucht, die Maulwurfshügel im Garten zu plätten und der sich, nach getaner Arbeit, beruhigt davon macht, hinein in unser dunkles Treppenhaus, wo er die Stufen hinaufgeht bis zur Schwelle vor der blitzblanken Wohnungstür, hinter der er dann darauf wartet, dass seine bessere Hälfte heim kommt und ihn herzt, so innig, das ich in meiner Wohnung nebenan das Horchen einstellen werde …

Gründe für einen geordneten Rückzug brauche ich nicht. Es reichen schon diese irren Temperaturen. Aber auf dem Balkon sitzend ist es, als wäre ich auf hoher See, so heftig bläst der heiße Wind in das Segel des Sonnenschirms. Etwas taucht auf, anderes verschwindet gerade, jede Ambition ist wie ausradiert, nur der Moment auf diesem Platz hier, auf dem Balkon bei über 33 Grad im Schatten, zählt, ein Kaltgetränk vielleicht noch, und die beste Gesellschaft, die ich mir denken kann: ein Buch, indem ich von schweren Jahren voller schöner Stunden lese …

Auch gestern schon herrschte diese schwüle Hitze, bis am Nachmittag erste Donner grollten, dann setzte leichter Sommerregen ein, kühle Luftzüge zogen vorüber, Blitze zuckten, ein Schmetterling suchte das Trockene auf der Loggia, dann fielen dickere Tropfen in Strömen, die Brandungswellen des Verkehrs wurden lauter, dann ging ich hinein, Starkregen und Windböen drückten an die Fensterscheiben, das Tageslicht wurde weggespült, die Aussicht hinter dem Fenster verschleiert, das Zifferblatt der Kirchturmuhr konnte ich aber noch golden leuchten sehen, dann ließ der Regen nach, der Donner zog ab, es klarte auf, die Sonne kam zurück, die Straßen trockneten langsam ab, für einen Moment noch schien die Stadt wie eingeschlafen, dann kehrte ich auf meinem Logenplatz zurück und schaute zu, wie alles nach dem kurzen Spuk wieder einsetzte, und dann …

Ja oder nein oder entweder oder, das schien die Frage für alle anderen zu sein, für mich aber nicht mehr, denn zum Glück bleiben mir die Segnungen und Prüfungen der Zukunft erspart, da ich sie, im Beisein eines von mir persönlich zusammengestellten Kreises von Freunden, zur Vergangenheit erklärt und beschlossen hatte, der öden Wiederkehr der An- und Entspannungen abzuschwören und mich stattdessen wie eine Flaschenpost zu verhalten, die von den Wellen der Gezeiten hin und her geschaukelt wird, bis sie am jenseitigen Ufer anlandet …

Von Kopf bis Fuß eine Augenweide, von hinten wie von vorne ein Wunder, ein zauberhaftes, ein vollkommenes Geschöpf -, und doch nistet der Tod in Gestalt eines klitzekleinen Erregers in ihr, den sie sich gestern beim Austausch von Körperflüssigkeiten einfing, Sex ist eben kein Spaziergang im Grünen, und wenn ihr Schöpfer es gut mit ihr meint, wird sie nie etwas davon erfahren, da er sie schon bald zum Opfer eines Unfalls machen könnte, bei dem ich möglicherweise als Zeuge zugegen sein werde, um den letzten flüchtigen Schimmer ihrer verlöschenden Anmut in ein Wörterleben zu überführen …

Die beste Auszeit gewährte mir ein Gedicht. Es kam wie ein unverhoffter Besuch und bereitete mir nach mehrmaliger Lektüre einen erholsamen Schlaf. In diesem gab es weder Angst noch Schmerzen, keine Klagen kamen auf, und ein Traum im vollen Gleichklang mit meinen Wünschen stellte sich ein. Als ich erwachte, griff ich neben mich und suchte das Gedicht. Zeile für Zeile, Reim für Reim, Silbe für Silbe wollte ich es nochmals lesen und memorieren. Doch es war nicht mehr da, auf Nimmerwiedersehen hatte es sich aus dem Staub gemacht. Es blieb mir von ihm nur eine Sentenz in Erinnerung, die ich hier mitteilen will: … das Zerbrochene findet sich zusammen im Mund eines schwimmtüchtigen Dichters … Egal, wie hoch der Pegel steigen wird, mit diesen wenigen Worten, immerzu wiederholt wie ein Mantra, wächst mir das Rettende entgegen, da bin ich mir todsicher …

Fürchterlich ist mein Donnerwetter, das ich ausstoße, wenn ich einwärts gekehrt meinen Geist im Wörtersee treiben lasse und plötzlich ein Lärmmacher in Gestalt eines debilen Gärtnergehilfen auftaucht, der mit einem Laubbläser welke Blätter wegfegt, jene Blätter, die mich gestern noch zu einer ingeniösen Ballade inspirierten, angesichts dieser unverschämten Störung verlässt mich die innere Ruhe und es bricht eine blindwütige Verbalinjurie aus mir heraus, die nicht selten von monumentaler Ungerechtigkeit ist und das solcherart gescholtene Menschlein stande pede in die Flucht schlägt, so dass ich wieder ungestört Jagdrunden in meinem liebsten Element drehen kann, ohne jedoch eine Garantie dafür zu haben, dass dabei ein bemerkenswerter Fang gelingt, der sich in brauchbaren Zeilen niederschlägt …

Ein entzückendes Lächeln kommt mir entgegen, als ich einen Gitarristen Brotherhood of man singen höre, von einem Paar, das ich sehe, kann der eine laufen, während die andere nur noch radeln kann, und schon werde ich von diesen allerliebsten Mama pendulans angezogen, hier im warmen Kiefernduft des Stadtparks, der bei diesem herrlichen Wetter südlich anmutet und die Sonnenhungrigen anlockt, ein Goldstück gibt mir Touché, der Steve Blow Job könnte nicht mehr fern sein, da Miss Kutschera mich liebt, wie ich einem Aufkleber entnehme, zuletzt protzt ein T-Shirt mit Fuck my mind und eine Beautyqueen entflieht, als ich laut deklamiere: Vor dem Verkehr ordentlich drücken! So ein kurzer Gang hält allerhand bereit, um meinen Wort- und Bildschatz zu bereichern. Der Samen des Verlesens und Versehens wird aufgehen, und allein die Aussicht auf die dadurch ermöglichten Texte lässt mich gurgeln vor Freude …

Am Morgen hatte ich eine Begegnung der dritten Art – mit dem Spiegel. Nein, das bin ich nicht, sagte ich mir, noch nicht, ich bin auf dem Weg dahin, aber noch bin ich nicht angekommen. Oder doch? Ich fühle, was ich sehe, und kann es nicht glauben. Ja, man wird alt. Ungepflegt, von schrägen Gewohnheiten in fantastische Formen verwittert, vor allem müde. Wohin also mit dem alten Sack? Am frühen Abend traue ich mich raus, das Gesicht hat sich geglättet, die Sonnenbrille verdeckt die Augenringe. Ich sehe Greise gemessenen Schrittes in der späten Sonne im Park gehen und freue mich, wenn sie versonnen die welken Blätter anlächeln, die sich schon auf den Wegen häufen, und ich stelle mir vor, was für ein Gleichmut ihre Gemüter erfüllen muss. Dann fällt mir eine Passage ein, die ich letzthin gelesen habe: Der Ernst des Lebens ist nicht oben am Berg, er wird nirgendwo eher vergessen. Der Ernst des Lebens beginnt in der Ebene, wenn der Stein zum Stillstand kommt …

Dieser Beitrag wurde unter Texte abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert