Mit der Erinnerung an eine Taumsequenz, in der zwei schlafwarme Hände nach mir tasten, mache ich mich am Vormittag auf zu einem Kurzausflug an die Landungsbrücken. Es ist sonnig und bitterkalt, und eine strahlend blaue Himmelskuppel gewährt beste Klarsicht. – Notiere mir zwei Dialogfetzen in der U-Bahn: „Lange geschlafen. Scheiße geträumt.“ Und: „Habe gestern im Theater nur gegähnt. Ich bin so langweilig, ich verstehe nichts davon.“ Fliehende Hausfassaden, von der Sonne grell beschienen. Verwischte Eindrücke. Dann, im dunklen Tunnel, die irritierenden Verdopplungen in den spiegelnden Fenstergevierten der Waggons. Vervielfachte Grimassen. An der Wand bemerke ich eine Werbung für Kontaktlinsen: „Damit Sie sehen, mit wem Sie es zu tun haben.“ – An den Landungsbrücken tobt das Leben. Die übliche Feiertagslaunigkeit an einem Sonntag. Das Wetter zieht alle raus ins Freie, trotz der kalten Temperaturen. Dazu die Touristenhorden, was zu einem Heidenspektakel an der Konsummeile des Kais führt. Ein Wettbewerb der Angebote. Ausflugsboote legen an und ab. Gegenüber ein Wald von Kränen an den Docks. Museumsschiffe laden zur Besichtigung ein. Zahllose eingemummte Einzelschicksale ziehen an mir vorüber, spazieren im Takt musizierender Ensembles aus Osteuropa. Ein Gedränge sondergleichen, ideal für Poseure. Gruppen von Jugendlichen mit Schirmmützen schlürfen in großen, ungeschnürten Turnschuhen umher, parlierende Paare, die Augen auf ihr Handydisplay gerichtet, bilden Hindernisse für die flutende Menge. Durch die Kälte wirken die Gesichter wie maskiert, eingefroren – blickdichte Visagen. Dazwischen summen automatisierte Rollstühle samt Besatzung durch die Menschenströme. Und immer wieder die enervierenden Pieptöne der Telefone. Ich lasse mich treiben und schlage mich zugleich mit Abstand durch das Amüsiervolk, zu dem auch ich gehöre – nichts anderes war das Ziel dieses Ausflugs: ein Unbekannter in der Menge sein, mittendrin und doch nicht dabei. Vor den Etablissements bilden sich ess- und trinkwillige Menschentrauben. Ich gönne mir ein Crêpe mit Vanillesoße, dazu einen Kaffee Togo. Innehalten und Aufwärmen. Mövenschwärme umkreisen die Essensreste auf dem Boden. Neben mir spricht eine vornehme ältere Dame zu ihrem Begleiter einen Satz, der sich bei mir einhakt: „Ich würde gerne in ein Marionettentheater gehen, mein kindliches Gemüt hat es mir angeraten.“ Unwillkürlich muss ich an Kleists Formulierung vom verriegelten Paradies denken. Unverdaute Lesefrüchte. Was würde mir mein kindliches Gemüt jetzt raten? Vielleicht: es der Sonne gleichzutun, denn sie verzieht sich hinter einer plötzlich aufziehenden dunkelgrauen Wolkendecke. Sofort ist die Szenerie in eine anderes, nun gedämpftes Licht getaucht. In der Ferne erscheinen die Kräne jetzt als urweltliche, riesige Stahl-Skelette, die goldbraunen Reflexionen auf dem Elbwasser sind verschwunden, die Fassaden werden blasser, und die Menge rückt noch näher zusammen oder stürmt die Fähren, um zu anderen Ufern überzusetzen. Schon fallen einzelne Graupelkörner, Wind kommt auf – es wird ungemütlich. Time to go. Eingemummt gehe ich wie beim Slalom durch die Massen, mit schlendernden Armbewegungen. Beim ersten Donner erschrecke ich kurz, finde dann diesen Theaterauftritt des wendelustigen Wetters grandios. Beim Warten an der Ampel spüre ich kleine kalte Finger in meiner rechten Hand. Ich schaue nach unten und sehe einen Jungen, der sich anschmiegt und den Gegendruck meiner Hand erwartet. Als dieser ausbleibt, schaut er hoch, erschreckt ob seines Fehlgriffs und flieht zu seiner Mutter, die wenige Schritte neben uns wartet und die ihren Filius für einige Sekunden aus den Augen verloren hatte. Die Reunion fällt stürmisch aus, und die Miene des Jungen scheint mich mit demonstrativer Nichtbeachtung strafen zu wollen. – In der U-Bahn spüre ich wohltuend die wiedererlangte Vereinzelung. Auch die anderen Fahrgäste sind eher mit sich als mit ihren Nachbarn beschäftigt. Es ist auffallend ruhig, selbst die Handys schweigen. Aus dem Fenster blicke ich auf die langen Mietshausreihen, den großzügigen Wohnmaschinen der Jahrhundertwende, in deren Erdgeschossen sich die Räumungsverkäufe aufgegebener Läden häufen. – Hamburgs Kuppel blaut wieder, die Kontraste sind zurückgekehrt. Beim Aussteigen trete ich auf einen knirschenden Teppich aus Hagelkörnern. Zum Abschluss wähle ich die Tour am Kanal entlang, freue mich über die dünne Eisschicht, auf der Möven und Tauben in kleineren Gruppen herumstolzieren, kaufe beim Bäcker eine Glücksspeise für den Nachmittag und eile zuletzt nach Hause, da eine düstere Wolkenbank erneut die Sonnenscheinheiligkeit des Wetters am heutigen Tage bestätigt. Kurz vor der Einkehr schenkt mir eine rothaarige Passantin mit Seidenschal ein mildes Lächeln und ich fühle mich belohnt für etwas, an das sich erinnern zu wollen schon zuviel des Grübelns bedeuten würde.
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Die hier veröffentlichten Fotos entstehen allesamt beim Spazierengehen. Sie zeigen zufällig in mein Blickfeld geratene und mit der Kamera festgehaltene Motive. Es geht mir bei diesen Augenblicksaufnahmen um eine Zwiesprache mit dem Sichtbaren, in der etwas scheinbar Vertrautes und Alltägliches ins Befremdliche oder Überraschende kippen kann. Alle Besucher sind herzlich eingeladen, ihre eigene deutende Fantasie tätig werden zu lassen und die Fotos zu kommentieren.Kategorien
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Nach dem Lesen dieser „Tranche de vie“ habe ich das Gefühl mit dir unterwegs gewesen zu sein, absolut treffend beschrieben und mir manches Lächeln aufs Gesicht gezaubert. Danke!
Den Dank gebe ich gerne zurück. Freut mich, dass es Leser meiner Gedankenspaziergänge gibt. LG, Uwe
… und im Hintergrund die wehmütige Melodie “ fang immer was an einem Sonntag an“.
gruss, josef
Kenne weder Melodie noch den Liedtext. Kannst Du mich aufklären? LG, Uwe