Short cuts XXIX

Beim Streunen stoße ich auf die kümmerliche Dekoration eines kleinen Fotostudios. Das Schaufenster ist vom Schmutz fast blind geworden. Mit Mühe erkennt man dahinter vergilbte Fotos, die als Tableau schief auf eine Pappe geklebt wurden. Sie zeigen Porträts von jungen Menschen, die eine maskenhafte Heiterkeit zur Schau tragen. Ein großes, durch eindringende Feuchtigkeit stark gewelltes Foto des Hamburger Rathauses bei Nacht soll Vorübergehende anlocken. Alles wirkt schäbig, vergessen, und uralte Spots werfen eine gelbes Dämmerlicht über ein fadenscheiniges Leichentuch aus Staub und Spinnweben. Das obere Feld des zweigeteilten Fensters beherbergt ein schauriges Arrangement aus vertrockneten Pflanzen, verdreckten Vasen, toten Insekten und welken Blättern. Im Inneren verlieren sich ein Schreibtisch und ein Paravent im Halbdunkel. Bisweilen taucht ein alte Frau auf, drapiert wie in Trance die wenigen Utensilien auf dem Tisch um, schaut versonnen nach draußen und verschwindet wieder in einem Raum, der mir wie das gestaltgewordene Warten vorkommt. Das Studio ist ganztägig geöffnet, wird aber von niemandem mehr gebraucht. Ihm ist die Zeit ausgegangen, und nun gleicht es einer immer unkenntlicher werdenden Erinnerung seiner selbst.

Dieser Beitrag wurde unter Texte veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

2 Antworten auf Short cuts XXIX

  1. walter sagt:

    Ich sehe es „lebhaft“ vor mir, dieses kleine Fotostudio, so detailreich hast Du dieses beschrieben, und ihm ergeht es wie vielem: Wer nicht geht mit der Zeit, geht mit der Zeit. Liebe Grüße, Walter

  2. Ulli sagt:

    ich schaue mit dir durch die vergilbten Scheiben auf eine Zeit, die einmal war, da kann sich wohl eine alte Frau nicht trennen, Abschied nehmen will gelernt sein, fangen wir JETZT an …

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert