Tranches de vie I

Schneefall über Nacht. Der große Gleichmacher, Besänftiger, der den Stadtlärm dämpft und wie in Watte einpackt. Trotz bleigrauem Dämmerwetter mache ich mich auf ins Freie. Schneewalken. – Ein kleiner Hund trottelt beschwerlich vor mir her, das Frauchen nutzt die Pausen, um in ihrer Zeitung zu lesen. – Am Kanal leuchten hellblaue Holzlatten. Tauwasser fällt in unregelmäßigen Abständen von einem Dach auf eine Blechleiste am Boden – tönende Tropfen, die vom langsam anschwellenden Dröhnen eines Motorflugzeugs in der Ferne verschluckt werden. Hinter mir lärmen Kinder, bellen Hunde, vereinzelte Rufe schälen sich aus dem unentwegten Rauschen der Stadt. Geräuschkulissen. – Ein morscher Baumstamm fällt mir auf, von einem Pilz befallen, mit urigen Geschwülsten und wunderbaren Farbschattierungen zwischen leuchtendem Grün, silbernem Grau und tiefem Schwarz. – Wieder im Verkehrsfluss gewährt mir ein Kleinbus mit dem Schriftzug „blue times Wasserbetten“ eine kurze gedankliche Pause: Tagträumen kostet nichts, hat aber Eigenwert. Für Sekunden auf der Bilderflucht. – Ein Diakonie-Plakat zeigt einen Cello-Spieler inmitten einer Ruinenlandschaft, der Werbezettel, der mir in die Hand gedrückt wird, verspricht „Urlaub für die Sinne“, ein Beautystore zelebriert den Körperkult und bietet Klangbehandlung und Handmassagen an, Pastillen gewähren „Naturschutz für die Kehle“ – ich wende mich ab und einer Hofeinfahrt zu, in der sechs Kopien berühmter Gemälde von Michelangelo, Botticelli, Rubens, Fragonard, Böcklin und Co. zu sehen sind, in die Porträts norddeutscher Promis collagiert wurden: Otto, Uwe Seeler, Heidi Kabel. Die Kopien sollen durch ihren Kunstindex auf das Büro im Hof verweisen: Art & Advertising. – Bei einer Ampel sehe ich ein schleichendes Greisenpaar. Sie redet unentwegt, er schweigt beständig. So ergänzen sich zwei Leben. – Ein stark verschmutzter Papierfetzen fliegt mir vor die Füße, auf dem das Fragment eines Textes zu lesen ist: „sahen sie ihn so immerwährend tot, so wehrlos, so ähnlich ihren Männern, dass sich die ersten Tränenspalten in ihren Herzen öffneten.“ Edelkitsch. – Ein Mövenschwarm kreist über mir und dem Brot, das ich auf dem Arm trage. Ich kreuze zwei Tauben, die ihre Schnäbel aneinander reiben. Ein Taxifahrer wischt Staub auf den Ledersitzen seines Gefährts, mit einem Pinsel. Auf der Brücke gibt es viele Müllverwehungen im Schneematsch, die mich an eine Lektüre erinnern, in der von „Traumkrümeln“ die Rede war. Beim Ramschtisch meines Buchhändlers gewähre ich mir einen Blick in einen Ehewälzer, dessen Motto lautet: „In der Mitte des Bettes ist der Fluss tief …“ Fernöstlich, dem Westen so nah. – Ich trottele weiter im trüben Licht. Sehe, wie ein noch froststarrer Apfel von einem Auto überfahren wird, schwarzes Mus hinterlassend. Kurz vor meinem Habitat verlasse ich den Gesteig, betrete einen Vorgarten, dessen Rasen mit einem Moosteppich überzogen ist, auf dem sich dünne Eishäutchen gebildet haben, die unter meinen Schritten in kleine Splitter zerbrechen. – Zuletzt sehe ich noch einen Aufkleber an einem Regenabflussrohr, auf dem nur noch „ökonomisere“ zu lesen ist. Mit diesem interessanten Wortpunsch in Gedanken noch beschäftigt kehre ich heim, nach einer Stunde des Umhergehens im jetzt immer schmutziger werdenden Schneematsch. Vom Besänftiger ist nichts mehr übrig. Lose Enden und noch mehr unbemerkte Anfänge bleiben zurück.

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2 Antworten auf Tranches de vie I

  1. walter sagt:

    Wunderbar wie du hier das Leben tranchierst und uns an deinen Gedanken und Erlebnissen teilnehmen lässt. Ganz grosses Kopfkino!

  2. Uwe sagt:

    Danke. Ich komme halt viel rum – auf meinen Gedankenspaziergängen. Uwe

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