Trotz bleigrauem Dämmerwetter mache ich mich auf ins Freie. Ein kleiner Hund trottelt beschwerlich vor mir her, das Frauchen nutzt die Pausen, um in ihrer Zeitung zu lesen. Am Kanal leuchten hellblaue Holzlatten. Tauwasser fällt in unregelmäßigen Abständen von einem Dach auf eine Blechleiste am Boden – tönende Tropfen, die vom langsam anschwellenden Dröhnen eines Motorflugzeugs in der Ferne verschluckt werden. Hinter mir lärmen Kinder, bellen Hunde, vereinzelte Rufe schälen sich aus dem unentwegten Rauschen der Stadt. Am Boden fällt mir ein Ast im Schnee auf, mit urigen Geschwülsten und wunderbaren Kontrasten in Schwarzweiß: ein Wurzelkobold. Wieder im Verkehrsfluss gewährt mir ein Kleinbus mit dem Schriftzug „blue times Wasserbetten“ eine kurze gedankliche Pause: Tagträumen kostet nichts, hat aber Eigenwert. Für Sekunden auf der Bilderflucht. Ein Werbezettel, der mir in die Hand gedrückt wird, verspricht „Urlaub für die Sinne“, ein Beautystore zelebriert den Körperkult und bietet Klangbehandlung und Handmassagen an, Pastillen gewähren „Naturschutz für die Kehle“. Bei einer Ampel sehe ich ein schleichendes Greisenpaar. Sie redet unentwegt, er schweigt beständig. So ergänzen sich zwei Leben. Ein Schwarm Möwen kreist über mir und dem Brot, das ich auf dem Arm trage. Ich kreuze zwei Tauben, die ihre Schnäbel aneinander reiben. Ein Taxifahrer wischt mit einem Pinsel Staub auf den Ledersitzen seines Gefährts ab. Beim Ramschtisch meines Buchhändlers gewähre ich mir einen Blick in einen Ehewälzer, dessen Motto lautet: „In der Mitte des Bettes ist der Fluss tief.“ Fernöstlich, dem Westen so nah. Ich trottele weiter im trüben Licht. Sehe, wie ein noch froststarrer Apfel von einem Auto überfahren wird, schwarzes Mus hinterlassend. Kurz vor meinem Habitat verlasse ich den Gehsteig, betrete einen Vorgarten, dessen Rasen mit einem Moosteppich überzogen ist, auf dem sich dünne Eishäutchen gebildet haben, die unter meinen Schritten in kleine Splitter zerbrechen. Zuletzt sehe ich noch einen Aufkleber an einem Regenabflussrohr, auf dem nur noch „ökonomisere“ zu lesen ist. Mit diesem interessanten Wortpunsch in Gedanken noch beschäftigt kehre ich heim, nach einer Stunde des Umhergehens im jetzt immer schmutziger werdenden Schneematsch. Lose Enden und noch mehr unbemerkte Anfänge bleiben zurück.
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Die hier veröffentlichten Fotos entstehen allesamt beim Spazierengehen. Sie zeigen zufällig in mein Blickfeld geratene und mit der Kamera festgehaltene Motive. Es geht mir bei diesen Augenblicksaufnahmen um eine Zwiesprache mit dem Sichtbaren, in der etwas scheinbar Vertrautes und Alltägliches ins Befremdliche oder Überraschende kippen kann. Alle Besucher sind herzlich eingeladen, ihre eigene deutende Fantasie tätig werden zu lassen und die Fotos zu kommentieren.Kategorien
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Wunderbar wie du hier das Leben tranchierst und uns an deinen Gedanken und Erlebnissen teilnehmen lässt. Ganz grosses Kopfkino!
Danke. Ich komme halt viel rum – auf meinen Gedankenspaziergängen. Uwe