Am Morgen kräht der Hahn pünktlich um 6.30 Uhr. Ich bleibe liegen, warte die Dämmerung ab und kämme derweil meinen Traumfilz aus: grinsende Tellermienen. Der schneeweiße Himmel lichtet das Zimmer, ein wirres Gestöber tanzt im Fenstergeviert. – Ich stehe auf. Gegen das fortgesetzte Lärmaufgebot der Rohrarbeiten vor unserem Haus hilft nur ein klassischer Start in den Tag: mit der heißen Flüssigkeitssäule im Hals beim ersten Schluck Kaffee und dem dritten Satz des ersten Klavierkonzerts von Beethoven in den Ohren. Draußen sehe ich eine im Wind schwankende Baumkrone mit einem noch verwaisten Vogelnest, ein lindgrün leuchtender Kirchturm, rauchende Schornsteine auf weißen Dächern und lautlosen Schneefall; drinnen höre ich jubilierende Spielfreude, ein Vorwärtsdrängen mit besinnlichen Pausen. Später dann noch den Drive eines Orchesterstücks vom heiligen Johannes mit wippenden Gliedern genossen – der Augenblick als Quellgebiet. Vor dem Rausgehen den Sätzling des Tages als Motto notiert: „Es muss ein Papageienschwarm her, damit die Leute das Leben sonderbar finden.“ (Wilhelm Genazino) – Der grau-weiße Himmel schuppt sich beständig, ein beiläufiges Wunder, das stante pede die Welt verändert. Im Schleichgang gehe ich aus mir heraus und ins Offene der Straßen hinein, nehme auch den Filius mit, der nach wenigen Schritten schon wieder anhält: Im Schaufenster eines „Änderungsdienstes“ liegen zwei Fuchsfelle, die Beinchen gekreuzt. Darauf sind eine Nähmaschine und ein Bügeleisen aus einem Puppenhaus drapiert, dazwischen hängt ein Miniaturanzug auf einem hölzernen Ständer, dem eine riesige Schere bedrohlich nahe kommt. Im ansonsten leeren Innenraum herrscht ein Nähfadenchaos auf dem Boden, der wie ein Schachbrett gemustert ist. Der Lilliputto drückt seine Nase am Glas platt. Während er dieses absurde Arrangement beglotzt, gönne ich meiner Latte einen Macchiato am Kiosk. – Drei Behinderte überqueren mit ihren Betreuern die Straße, zwei davon im Rollstuhl. Der dritte zieht einen Einkaufswagen hinter sich her. Als ein Rad abfällt, dreht er durch. Laut schreiend und die Hände auf die Ohren drückend alarmiert er die Umwelt, bis ein Betreuer mühelos freundlich sein Gefährt wieder in Gang setzt und er befriedet weiterziehen kann. M. erklimmt unterdessen die Bauklötze, die er zuvor über die Szene gestaunt hat. – Mich lenkt ein Zettel ab, der an einer Haustür „Finderlohn“ verspricht. Bei einer Schneeballschlacht ging ein goldener Ehering verloren. Da der Loser erst vor kurzem geehelicht wurde, ist ihm der Ring noch besonders lieb und teuer. Deshalb der Aufruf an alle potentiell ehrliche Finder. Ich würde das goldige Fundstück eher in Bares umtauschen. – Eine völlig durchnässte Lederhose am kotverschmierten Wegesrand bleibt dagegen wahrscheinlich auf ewig unbeachtet. M. inspiziert die Tretminen. Er stößt in der Hocke fast mit der Nase auf die ekligen, gefrorenen Wendeltreppen der Vierbeiner. Bei einem Ausweichmanöver lese ich die handschriftliche Mitteilung an einem Hauseingang: „Bitte werfen Sie keine Medien in den Briefkasten“ – Angst vor Geistersehern!? – Auf einer Baustelle übertönt die Radiodudelei noch das Lärmen der Bohrer und Schleifer. Trotzdem höre ich hinter mir die Frage: „Wo ist denn Deine Mama?“ Ich drehe mich um und wende mich an eine pudelbemützte Frau mittleren Alters mit der Erklärung: „Weiß ich nicht. Ich bin der Papa. Das muss derzeit reichen.“ Kopfschüttelnd geht die Frau weiter und merkt an: „Da bin ich mir nicht so sicher. Wenn ich das so beobachte, glaube ich eher, das die heutigen Jungväter auch noch ihre Mütter bräuchten.“ Ein wenig fühle ich mich ertappt bei meinem Leichtfüßeln im Alltag, den Filius im Schlepptau, aber nicht immer im Auge. So will ich die mahnenden Worte beherzigen. – Bei einem Imbiss fallen mir schmutzstarre Lichtschalter mit der Aufschrift NIX auf. Und mit dem Kleenen an meiner Hand gönne ich mir beim Vorübergehen an einem Kiosk die Gratiszeile einer Pornozeitschrift: „Bei mir bekommst Du Edelsex!“ – Leichtfertig erregt kehre ich in meine Bank ein, um Geld zu ziehen. Dort spricht ein schnieker Rentner mit Schirmmütze meinen Sohn an: „Du trägst den Rucksack und Dein Vater nichts.“ M. bleibt stumm, und so entspringt folgender Dialog zwischen mir und ihm: „Ich habe ihn ja auch eineinhalb Jahre tragen müssen. Das nennt man Lastenausgleich.“ „Hör‘ mir bloß auf mit Lastenausgleich. Das war ’48, vor der Währungsreform. Da gab’s nur Hunger und sonst gar nichts. Bin Baujahr ’30.“ „Meine Eltern sind 1940 geboren. Die haben von dieser Zeit vieles vergessen.“ „Du solltest aber nichts vergessen. Vor allem nicht den da. Das ist Dein Kapital.“ Er tätschelt meine Schulter und geht lächelnd davon. Belehrungen allerorten an diesem Tag. – Mit Scheinen verlassen wir die Bank und gehen weiter unseres Weges, der uns an einem Erdloch vorbeikommen lässt, das nach Champignons duftet. Eine Springmaus mit Schlammstiefeln hüpft uns mit ihrem väterlichen Freund entgegen. Wir weichen willig aus und bleiben bei einer Ampel stehen. Dort bietet eine „examenierte Altenpflegerin private Senioren-Betreuung mit Herz und Zeit“ an. Ich notiere mir zum Scherz die Telefonnummer. – Bei einem frisch eingesetzten Fenster nehme ich eine Transportmuffe aus Filz an mich. Als selbstklebendes minimalistisches Objekt an der Tür meines Arbeitszimmers soll es künftig Abstand anmahnen. Den ich selbst auch einhalte, zumal vor dem Besoffenen, der mit tiefrotem Gesicht und schweißnasser Stirn in großen Ausfallschritten auf dem Trottoir umherschwankt. Er fällt auf eine Bank und zieht sich eine Plastiktüte von „Juppy“ über den Kopf. Regungslos verharrt er für einige Sekunden. Dann spring er plötzlich auf und torkelt weiter. – In einem Hundesalon bürstet die Besitzerin ihren Floh Kati. Ein Optiker bietet Brillen mit und ohne ESPRIT an. Jugendliche Konsumjunkies warten an einem Zebrastreifen: eine brennende Zigarette in der linken, piepende Handys in der rechten Hand und tönende Kopfhörer auf den Ohren. Unansprechbar. Weltabschottung durch Technikmüll. Eine Tankstelle protzt: „Nie zu immer auf“. Davor schreiten zwei Schüler aus, in ein Gespräch vertieft: „Es gibt keinen ohne Schwächen. Für jeden tritt der Fall ein, wo er abschreiben muss.“ „Es gibt aber auch Faule, die schreiben nur ab und lernen nie.“ Mit einvernehmlichem Nicken bekräftigen sie ihr Erfahrungswissen. – M. will zu den Containern. Baden in Altpapierfluten. Zeitungsfetzen, die sich in Dornenhecken verfangen haben. – In einem Fenster sehe ich rote Rosen in einer Thermoskanne stehen. Doch schreiende Kinder lenken mich von diesem Stillleben ab. Zwei Jungen fordern einen dritten zum Spielen auf, doch dieser verweigert sich. Eine letzte Replik der Auffordernden lässt mich zusammenzucken: „Komm endlich, sonst karamelisiere ich Dein Arschloch.“ Daily horror. Ich erkläre diese Wendung meinem Söhnchen nicht, sondern schlendere am Schaukasten der Passion vorbei und höre an der Ecke vor unserem Wohnhaus endlich einen Papa eine schwärmerische Weise geigen, und schon wird das Leben sonderbar.
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Die hier veröffentlichten Fotos entstehen allesamt beim Spazierengehen. Sie zeigen zufällig in mein Blickfeld geratene und mit der Kamera festgehaltene Motive. Es geht mir bei diesen Augenblicksaufnahmen um eine Zwiesprache mit dem Sichtbaren, in der etwas scheinbar Vertrautes und Alltägliches ins Befremdliche oder Überraschende kippen kann. Alle Besucher sind herzlich eingeladen, ihre eigene deutende Fantasie tätig werden zu lassen und die Fotos zu kommentieren.Kategorien
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Meta
wie schön mit euch beiden spazierenzugehen-sehen-hören. und schon wird das leben sonderbar.
ein tag voller er- und abmahnungen.
ich mag deine lebenshäppchen!
Deine alltäglichen Begebenheiten und Gelegenheiten sind einmal mehr ein Lesegenuss par excellence!
Großartig! So viele geschriebene Bilder. Einfach großartig.
Und noch etwas: Arte hat doch ab und zu diese Wettbewerbe, in denen die BesucherInnen auf der Webseite – zum Beispiel – ihre Vision für das Jahr 2050 einreichen können. Das Trickfilm-Team setzt die schönsten Ideen in Filme um. Ich denke, ein Cartoon- oder Trickfilm-Profi könnte aus dem Text eine wunderbare Geschichte machen.
Vielen Dank, Jürgen.
Ja, meine Spaziergedankengänge – mit und ohne den Filius – gleichen einer Bild-Novelle: Klappe auf … Klappe zu, und dazwischen eine lose Folge von Eindrücken, wahrgenommen, festgehalten, losgelassen.
Ich bin für Anregungen immer offen, und so werde ich mir die arte-website mal anschauen. Danke für den Tipp.
Grüße, Uwe