Cinémaginaire V

Was bist du bereit dir vorzustellen (Beichtstuhl)

Beichtstuhl

Manchmal wird mir das Leben so schwer, dass ich mich setzen und meinen Körper ohne Bedenken durch ein Schlupfloch verlassen muss. Dann beginnt ein großes Zurückziehen, so weit, bis kein Blick mehr Aussichten erlaubt und die Gewissheit herrscht: Ich bin in meiner Stirnhöhle eingetroffen. Von aller Außenwelt abgeschottet befinde ich mich inmitten eines Stimmengewirrs. Ich nehme im Stockdunklen auf einem Stuhl Platz, genieße die Spielbeinfreiheit und die einfache Weise, nur dazuhocken und dem zu lauschen, was mir zugetragen wird. Bisweilen memoriere ich das eine oder andere Wort, und manchmal auch ganze Sätze, von denen ich glaube, dass sie mir einmal einen Dienst erweisen werden. Aber die Enttäuschung war bisher immer groß: Sobald ich sie draußen geäußert hatte, veränderte sich ihr Sinn, die Luft ging ihnen aus und sie sackten in sich zusammen. Es ist, als ob sie nur im dunklen Resonanzraum meiner Stirn einen flüchtigen Trost spendieren können. So nehme ich die in Worte gefassten Gedanken wahr, wie sie in zufälliger Folge an mir vorüber ziehen … und vergesse sie. Wenn ich eindöse streift eine kühlende Hand die pochenden Schläfen und berührt ganz sachte meine Augendeckel. Mein Atem wird ruhiger, die Stimmen verstummen, und nach und nach breitet sich wohlige Stille aus. So geht die Zeit dahin -, und ich erinnere mich schon gar nicht mehr daran, weshalb ich in mein Dachstübchen emigriert bin, ein Effekt, der belebend wirkt: die Schwere verfliegt, das Dröhnen vergeht, die Mutlosigkeit fällt von mir ab, die Gelenke werden wieder beweglich, die Lunge mag wieder pumpen, das Herz wieder schlagen, und so richte ich mich auf und mache mich auf den Weg. Meine Schritte hallen im leeren Schädel wider, bis ich den hauchdünnen Lichtstrahl erreiche, der mich zum Schlupfloch führt, durch das ich nach draußen gelange, dorthin, wo ich meinen Körper verlassen hatte und wo er immer noch auf mich, seinen Stammgast, wartet. Es klingt unwahrscheinlich, aber dort, unter den Baumkronen sitzt er auf einer Bank am Kanal, und plötzlich erscheint mir mein Leben wieder klar, durchsichtig, leicht, wild und fremd zugleich, so dass ich es fröhlich begrüße und geschwind den Körper anprobiere. Und wirklich, er passt wie angegossen, die Nähte schließen sich, und als ich zu mir komme, hat sich die Szenerie grundlegend geändert. Dieses Mal habe ich noch nicht den Kürzeren gezogen, doch ich warte ein wenig, bevor ich mich wieder in Bewegung setze. Man kann ja nie wissen.

 

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Eine Antwort auf Cinémaginaire V

  1. irgendlink sagt:

    Wirklich schön geschrieben, die Emigration ins eigene Dachstübchen und die Rückkehr in den wie maßgeschneiderten Körper. Ich hab das auf Twitter weitergesagt. Liebe Grüße nach der Waterkant.

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