Extemporalien in Dosen oder: Schreiben aufs Geratewohl

Ich saß coronahalber auf meinen vier Buchstaben und ging in meinem Kopf fremd. Dort erschienen mir Sätze, die sich unaufgefordert vermehrten. Ich gab ihnen Nummern und doste sie ein

Dosis XI

101 Der Hader ist nicht am Platz. Dafür schlägt die Wut über die Stränge. Doch die lässt mit der Zeit nach. An ihrer Stelle macht sich die Sorge breit. Dann greift die Furcht um sich. Zuletzt stirbt die Hoffnung. All das hat dazu geführt, dass nun eine zarte Melancholie leise zu singen anhebt

102 Es war einmal ein Mund, der sagte zur Hand: Rühr mich an. Das Ohr hörte die Stimme nicht und so ruhte die Hand im Schoß. Dort wuchs ein Wunsch heran, wurde riesengroß und übermannte Hand und Stimme. Die Lippen spitzten sich und ein Kuss flog davon, märchenhaft weit und weiter

103 Heute ist mein Alter vorgerückt. Ich folgte ihm nicht nach, blieb einfach zurück. Es ging mir gut ohne Alter. Den ganzen Tag fühlte ich mich wie von einer Last befreit und sogar zu Taten aufgelegt. Aber davor bewahrte mich meine Liebste, sie weiß, dass ich zu dieser Sorte Mensch nie gehören wollte

104 Ich gehe raus, doch niemand nimmt von mir Notiz. Kein Lächeln trifft mich, kein Wort wird an mich gerichtet, keine Geste meint mich. Auch ich kann mich nicht verständlich machen. Es ist als ob ich unsichtbar wäre, ein Lebendtoter, den die anderen weder wahrnehmen noch verstehen können. Einsamer denn je drehe ich die vertraute Runde. In meiner Wohnung sehe ich später im Standspiegel die Lösung des Rätsels: Ich hatte in der Eile vergessen, meine Untertitel anzulegen

105 Gestern morgen habe ich mein Herz ausgeschüttet. Es blitzte und donnerte, die Büsche raunten, der Wind pfiff, und dann stürzte ein Regen nieder, der alles überflutete. Was für ein Tumult. Als er endete, war mir inmitten der Wassermassen klargeworden, dass ich nun nichts mehr zu fürchten hätte

106 Auf mein Gedächtnis ist kein Verlass. Wie in einem chaotischen Traum irre ich umher, weil ich mich nicht mehr an die Ziele erinnern kann, die zu erreichen ich mir vorgenommen habe. Ich stolpere wie durch ein terrain vague, das mir nichts sagt. Wenn ich aber stürze und meine Nase den Boden berührt, fällt mir ein Stein vom Herzen und kullert vor mir her, bis er in einem dunklen Loch verschwindet. Dann presse ich die Lippen aufeinander und warte, ohne zu wissen, worauf

107 Bei einer Impfstelle lese ich „Geldfieber“ und beschließe, einen Spottverein zu gründen. Eine eigene, selbstgeschaffene Verrücktheit wie diese, erlaubt mir, den Tag völlig unabhängig zu vergehen und mich haltlos und dabei zunehmend glückhafter zu verblicken. Mir ist dann zumute, als ob ich ein Doppeleben führe, in dem es Miezen zum Spaßtarif gibt, heiße Brauteinfahrten auf mich warten, der Laberverkauf kein Ende findet, eine Gedenkchirurgie praktiziert wird und Dünkelkissen eine wohlige Wärme verströmen, bis ich als Gayler Ficker zuletzt mein Dormizil erreiche, das Schreckbuch schließe und völlig erschöpft von diesem mal groß-, mal kleinlauten Als-ob in den Seilen hänge

108 Am frühen Morgen habe ich mich im Bett tot aufgefunden. Ich war unbekleidet, Arme und Beine wiesen Fesselspuren auf. Um den Hals lag noch das Seidentuch, mit dem ich erwürgt worden war. All das machte mich nicht stutzig. Denn gestern hatte ich auf meinen Runden einen Mann getroffen, der laut fluchend auf mich zuraste, kurz vor mir stoppte und schrie: Ich bringe Dich um! In der letzten Nacht wurde ich demgemäß Opfer dieser Ankündigung. Ohne jede Überraschung nahm ich die unumkehrbare Konsequenz dieser Tat zur Kenntnis. Die ehelichen Pflichten wurden im Laufe des Vormittags trotzdem an mir vollzogen, wenn auch ohne meine innere Beteiligung

109 Alle Finger zeigen auf mich. Nun ja, das Leben lässt sich nicht kontrollieren. Aber mir passiert nichts, ich ruhe in Gottes Hand, komme, was wolle. Das kann mich mitunter zu Tränen rühren oder auch zu meiner zweiten Natur werden oder es bleibt – unfassbar. Der Wortfilm reißt immer an dieser Stelle, genau da, wo es mir nicht gelingen will, ins bergende Helle vorzudringen

110 Derweil zupft sich, wie ich von meiner Loggia aus sehe, eine am Straßenrand auf einer Mauer in der Sonne hockende Frau seelenruhig mit einer Pinzette die Nasenhaare. Und ich sage mir, dass durch und mit Genuss zu siegen, eine Hoffnung wäre, die es zu hegen gälte, wenn es denn überhaupt noch ums siegen ginge

111 Ein geringschätziges Lächeln, und schon ist das Gleichgewicht gestört und ich muss das Areal verlassen. Der Abschied fällt schnell und kategorisch aus. Jede zukünftige Teilnahme ist ausgeschlossen. Unversöhnlich bleiben die Reihen geschlossen und mir jeder Zugang verwehrt. Laute Empörung macht sich breit, als ich zu bedenken gebe, dass es sich um eine Verwechslung handele. Ich sei nur das Double von Soundso, und als ein solches müsse ich dessen Gemütsregungen zum Besten geben, somit auch das Lächeln von eben. Aber alle halten das für Scherz, Satire, Ironie, ohne tiefere Bedeutung. Dann brodeln sie noch eine Weile wortlos vor sich hin

Ich kehre meine Extemporalien zusammen
und lasse sie ins

weltweite N E T Z

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uff

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2 Antworten auf Extemporalien in Dosen oder: Schreiben aufs Geratewohl

  1. studio glumm sagt:

    Ich empfehle die 105! Ich sage 105…! (Ohne Untertitel anzulegen.)

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