Le flaneur du mal

Hals über Kopf sprang er aus dem Bett, wusch sich und hüpfte mit Elan die Treppen hinunter, raus auf die Straße, um den Tag zu vergehen, denn meist fällt ihm dabei etwas ein oder auf. Heute aber nicht. Keine Worte wirbelten durch die Luft, kein Schatten verriet sein Geheimnis, kein Penner orakelte vor sich hin, kein Geschäft bot ihm seine Auslagen an, kein Platz lud ihn ein, kein Irrer ließ sich gehen, überhaupt kein Fremdleben, dem er folgen konnte, nirgends, alles schien ihm fahl und leer, nur stumme Kulissen nahm er wahr, in denen erloschene Gestalten hockten, und die Liebe Not, die ihn mit ihren dunklen Kulleraugen in Gassen lockte, wo es nach Alkohol und Pisse stank. Der Wind war kurz angebunden, das bucklige Pflaster ließ ihn stolpern, er blieb stehen, torkelte mit rudernden Armen weiter, lief um vielversprechende Ecken, die dann in Sackgassen mündeten, ging dahin und dorthin, hinaus und hinein, doch überall nur graue Mauerstücke und hohle Fensteröffnungen, er trank im trübgelben Licht einer Durchfahrt einen bitteren Kaffee, stierte dabei in den verschleierten Himmel der Pfützen, und selbst am Kanal, wo er in stiller Selbstgenügsamkeit schon ganze Nachmittage auf einer Bank verhockte, selbst dort verging ihm Hören und Sehen. Schlotternd stand er im Ungewissen und vermickerte inwendig, ein Mauvaisvivant wie er im Buche steht. Kein Talent zum Gehen, weder Format noch Fortüne zum Sehen. Der UNMUT saß im Gemüt. Keine Abwechslung erreichte ihn, kein Staunen, keine Störung. Die Blechkarossen lärmten, Windböen trieben Müll in tote Winkel, die Parfümwolken der Passantinnen reizten seine Nase, und von dem Bild der witzelnden Arbeiter mit ihren leuchtend orangefarbenen Jacken blieb ihm nur das düstere Loch in Erinnerung, in dass sie lachend starrten. Vor einer Horde blödfroher Teenies, die auf ihre tönenden Handys glotzten, wich er aus, wie allem, was ihm heute begegnete, auch den halblahmen, rentenversorgten Greisen mit ihren Rollatoren, denen er sonst besänftigende Blicke zuwarf. Was war ihm geschehen? Nichts oder dasselbe wie immer: das Alleralltäglichste, nur eben ins Nichtige, Öde und Sinnlose gedreht: Was ihm sonst als das prallbunte Leben der Straßen entgegenkam, war heute eine aufgeblähte und übel riechende Leiche. Als er begriff, dass aus diesem Gang kein Fünkchen zu schlagen sein wird, schleppte er sich zurück. Beim Eintreten fragte ihn die Herzdame, ob er das sei, der so stinke. Er erklärte ihr alles, worauf sie ihn unter die Dusche schickte. Und erst nach der Dämmerstunde war er bereit, den Rechner zu öffnen, die Fingerspitzen auf die Tastatur zu setzen und über diesen missglückten Tagesgang zu berichten. Doch die Danebenwirkungen hielten lange an, selbst die Wörter waren anfangs noch angezählt, und so blieb bis zum letzten Buchstaben, den er niederdrückte, die Gewissheit aus, in naher Zukunft je wieder einen neuen Anlauf nehmen zu können. Aber so sollte es nicht enden, denn das Schreiben gab ihm langsam, sehr langsam, die Gutmütigkeit gegen sich selbst zurück. Ein Anfang, immerhin.

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3 Antworten auf Le flaneur du mal

  1. „Ich habe keine Zeitung gelesen.
    Ich habe keiner Frau nachgesehn.
    Ich habe den Briefkasten nicht geöffnet.
    Ich habe keinem einen Guten Tag gewünscht.
    Ich habe nicht in den Spiegel gesehn.
    Ich habe mit keinem über alte Zeiten gesprochen
    und mit keinem über neue Zeiten.
    Ich habe nicht über mich nachgedacht.
    Ich habe keine Zeile geschrieben.
    Ich habe keinen Stein ins Rollen gebracht.“ (Thomas Brasch)

    Die Tage als Anfang begreifen, auch wenn sie sich nicht so anfühlen. Wunderbar, Uwe.

    Viele Grüße & weiterhin sichere Straßen, Fritsch.

    • Uwe sagt:

      Ich hatte doch mal, im Lockdown-Blues letztes Jahr, so was wie eine Variation auf diesen Brasch-Text geschrieben, ach ja, hier:

      Brasch gelesen
      Frauen nachgesehn
      den Briefkasten geleert
      niemandem etwas gewünscht
      alle mit Abstand umsegelt
      ungern in den Spiegel geschaut
      mit mir über alte Zeiten gesprochen
      nichts Bewegendes gedacht
      unverhofft die Riemen gelöst
      und Hand angelegt

      https://spazierensehen.de/2020/05/21/short-cuts-xlv/

      Danke, Flo.

      U

  2. glumm sagt:

    „… denn das Schreiben gab ihm langsam, sehr langsam, die Gutmütigkeit gegen sich selbst zurück.“

    Das ist schön ausgedrückt. Das Gefühl kenne ich. Und wenn es in die entgegengesetzte Richtung geht, das kenne ich auch. Wenn nichts geht am Tisch. Wer kennt es nicht, der je einen Stift in der Hand hielt.

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