L’écrit

Heute sah ich so viele Wörter, dass ich nicht wusste, was ich mit ihnen tun sollte. Sie verstopften die Straßen, zogen in Scharen durch den Himmel, waren in den Zimmern, in den Schubladen und unter den Teppichen. Selbst in Autos und Bussen saßen sie und tönten. Niemand hatte je so viele Wörter gesehen oder gehört, geschweige denn an öffentlichen Flächen aller Art gelesen. Was sollte man mit dieser Schwemme an Worten anfangen? Kein Regen spülte sie weg, kein Wind blies sie davon, niemand konnte sie entsorgen, sie besetzten jeden Fleck, draußen wie drinnen. Ich war nicht der einzige, der sich irgendwann ängstigte. Sonst konnte ich mir nicht genug Worte erlesen, aber heute wurde ich regelrecht von ihnen eingenommen und besetzt. Eine Invasion, die mich und alle anderen lahm zu legen drohte: „Eine Welt, dicht / getäfelt mit Wörtern, / macht Angst.“ Sie wechselten ständig Farbe und Tonlage, sammelten sich zu Sätzen, die weder zu enträtseln waren noch irgendwo endeten, formierten sich in Absätzen, die wie Bollwerke den Weg versperrten. Es erwies sich als unmöglich, ihre sagenhafte Häufung aufzulösen, geschweige denn ihren Sinn zu erfassen, und jede logische Erklärung prallte an ihrer schieren Masse und ihren undeutbaren Juxtapositionen ab. Sie tauchten immer wieder aus jeder möglichen Richtung auf, krochen aus den Löchern und Rissen, drangen in unsere Köpfe ein und machten sich darin breit. Zum Schutz pfiff ich vor mich hin, summte perpetomobile Melodien, die nur mir etwas sagten. Aber über allem schwebte die Frage: Was will die Wortflut uns zu verstehen geben? Vielleicht, so denke ich mir jetzt, da ich darüber schreibe, vielleicht war ihnen daran gelegen, uns zu zeigen, wie es wäre, wenn alle Gedanken ihren Ausdruck fänden und sichtbar würden, wenn nichts geheim bliebe und alles, einmal gedacht, sofort eine objektive Existenz bekäme, selbst unbewusste Phantasien. Dann käme ein Tsunami aus Worten auf, der alles mit sich risse, dem man nicht ausweichen könnte, selbst im Schlaf nicht, auch nicht in den Träumen. Und genau das war heute geschehen und ich war, neben anderen, ein Zeuge dieses außergewöhnlichen Vorkommnisses, das auch noch nicht zu einem Ende gekommen ist, denn selbst jetzt, in diesem Moment, in dem ich Moment schreibe, drängen sich zahlreiche Wörter in den Vordergrund, nötigen mir ihre Bedeutsamkeit auf, und nur unter allergrößter Anstrengung ist es mir bis hier gelungen, einen halbwegs schlüssigen Bericht zu liefern, doch es stürmen unentwegt so viele Worte auf mich ein, dass ich nun erschöpft bin und hier abbrechen muss

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2 Antworten auf L’écrit

  1. Wortlos stehe ich vor diesem Ozean der wortreichen Poesie, taumelnd zwischen Entzücken & Ertrinken & kann nicht anders als mehr, mehr, mehr rufend, nur um anschließend gleich wieder wortlos zu genießen.

    Viele Grüße & weiterhin sichere Straßen, Fritsch.

  2. Francis J sagt:

    l’écrit d’une existence, on pourrait dire qu’une existence ne suffirait pas à écrire tout l’écrit d’une existence, on pourrait le dire, on pourrait l’écrire. et puis à quoi bon ? je ferais mieux de me taire, et je vais immédiatement me taire.

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