Tranches de vie XXXI oder: Im Angesicht des Leerguts

Armer Wicht

Der Ernst des Lebens ist nicht oben am Berg, er wird nirgendwo eher vergessen. Der Ernst des Lebens beginnt in der Ebene, wenn der Stein zum Stillstand kommt.

Die Große Schlappe kommt über Nacht und legt sich neben ihn. Ihr hagerer Körper wärmt nicht, die spitzen Knochen stechen ihm ins Fleisch, so dass er erwacht. Die allmähliche Selbstbesänftigung beim morgendlichen Gehen im Park wird vom Röhren der Häcksler gestört, und die Blätter im Gegenlicht der Sonne bleiben weitgehend unbemerkt. Wie immer ist er ohne Auftrag unterwegs. Kein autorisierter Agent kommt in Sicht, nur ein paar Vögel rascheln im Hinterhalt, ein Knicklicht flackert zwischen welken Blättern, und dem Gespräch zweier vor ihm gehenden Personen lauscht er unwillig. Bald erlahmt der letzte Rest Elan und er guckt auf einer Bank in den Tag hinein. Nichts stört seine Abwesenheit und er hängt für Minuten einem Wort nach: Z a h l t a g. Als traurige Gestalt kommt er sich in seinen Gedankengängen entgegen, und gewaltig ist der Absturz, der ihn am Rande des Parks erwartet. Dort steht ein Herr mit weißer Weste und händigt ihm ein Schriftstück aus, darin fein säuberlich seine Arbeitsschulden aufgelistet sind. Er kennt sie alle, doch fällt es ihm nicht ein, sie umstandslos zu begleichen. Lieber nicht! hallt es in seinem Schädel, und er lässt den Herrn links liegen, flieht hinter die Büsche, doch die Enge in seiner Brust nimmt nicht ab. Wie einen Stoß spürt er die Wucht dieser Begegnung, bis er die Wohnungstür hinter sich schließt. Entspannung stellt sich auch dort nicht ein, keine Selbstbeschwichtigung gewährt ihm die Ruhe, die ihn die Entdeckung vergessen lässt, dass sein Leben verpfuscht ist.

Und in der Tat hat sich der Ausverkauf seiner Geisteskräfte in bestürzender Eile vollzogen. Das entstandene Vakuum füllt er notdürftig mit äußeren Reizen, und die Beweise häufen sich, dass auch der letzte Rest seiner Würde vor die Hunde geht und er zu einem tief mit sich selbst überworfenen Menschen wird. So lebt er beziehungslos in den Tag hinein, schwimmt unbemerkt im Alltag der anderen mit und erschöpft sich in unverbindlichen Spielereien. Merkwürdigerweise denkt er nicht ans aufhören, verharrt vielmehr in diesem paradoxen Stillstand und vermehrt mit einer Art Angstlust die Wortspiegel, die in immer neuen und doch vertrauten Bildern die Nichtigkeit seines Tuns oder vielmehr: die Unbegreiflichkeit seines Nicht-Tuns zeigen.

In leeren Momenten kniet er sich nieder. Dann dröhnt ihm das Unmögliche in allem entgegen, und er will einmal hemmungslos verweilen vor dem Loch und hineinstarren, gedankenverloren, ohne Eigenwillen, um dann in der Abwesenheit zu versacken. Die Augen werden täglich weniger fähig, klar zu sehen, und sein Geist vertrocknet zunehmend zu einer Backpflaume. Nachts wird etwas in ihm zum Untier, das in panischer Raserei in seinen Träumen wütet, alles niedermäht, was ihm lieb und teuer ist.

Zudem häufen sich die Aussetzer. Einmal betrachtete er auf seiner Runde das Ende einer Straße, wie in einem Traum öffnete sich eine Tür, heraus trat ein Mann mit Bauchansatz, aus dessen Mund ganz langsam Zähne herausfielen, einer nach dem anderen, während hinter ihm eine Lampe mit der Aufschrift „Edenhall“ flackerte. Merkwürdig auch ein anderes Vorkommnis, das schon länger zurückliegt. „Komm gestern wieder“, forderte ihn ein alter Mann auf, als er vor dessen Wohnung stand und einen versehentlich bei ihm gelandeten Brief überreichen wollte. Dieses Nichtverstehen nimmt zu. Wenn er die Straßen entlang geht und nichts im Kopf hat, ist zwar alles, was ihm begegnet, dazu angetan, ihn in jene Richtung zu drängen, mit der alles begann, aber in letzter Zeit bleibt nichts mehr haften und die Verwandlung setzt nicht ein. So verzieht er sich ins Zwielicht der Worte, mit denen er seine Lage umschreibt. Aber das sind nur ungelenke Zeilen eines Phantasten, die im virtuellen Nirwana verschwinden.

Unter diesen Umständen fällt es der Großen Schlappe leicht, ihn heimzusuchen. Sie kommt über ihn und versucht, ihn vollständig lahmzulegen, und er kann sie gerade noch daran hindern. Alles hängt an einem seidenen Faden, die Depravation und seine Widerstandskraft, bis er dermaleinst im Boden versenkt sein wird. Aber noch herrscht ein fragiles Patt.

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