Dichtung & Wahrheit

Am frühen Morgen: Brain Blues. Da hilft kein Händel, eher schon ein Kaffee, auf der Loggia eingenommen, in frischer Luft und mit einer Nebelsonne, die sich durchs lichte Grau des Himmels bohrt. Glocken läuten zur Morgenandacht, das Müllauto biegt in unsere Straße ein, streut orange leuchtendes Blinklicht auf die Mauern. Eine Sekundeneinkehr, mit der warmen Flüssigkeitssäule in der Kehle und einem süßlichen Nachgeschmack im Mund. Ein der Zeit kurz entrissener Augenblick, zur Hälfte – mindestens – der eigenen Vorstellungskraft geschuldet. Später stürze ich mich wieder in das lieb gewonnene Spazieren durch die Straßen. Mehrere Schichten schwarzbraunen Laubs bilden eine schmutzige Haut auf dem grünen Filzbelag eines gastronomischen Freisitzes. Eine in Rosa gekleidete Frau mit Earphones schenkt mir ein mildes Lächeln, im Vorbeigehen brummt sie eine Liedzeile, von der ich „The man who would…“ mithören kann. Was wird er schon wollen – in den Stadtpark, wie ich. Dort, auf den nun lichtdurchfluteten Wegen, herrscht ein reger Austausch von Atemwolken, ausgestoßen von den unermüdlichen Walkern und Joggern bei ihrem alltäglichen Bodyshaping. Ich dagegen schlendere ohne Mühe und Not, freue mich an den farbintensiven Rinden und leuchtenden Blättern, überspringe die parataktisch angeordneten Baumschatten, höre in der Ferne das Lärmen der Spielplatzhirsche, sehe zwei Eichhörnchen beim Umkreisen eines Baumstamms im flotten Tanz ihres Liebesspiels zu, und pfeife im Walde unbehelligt vor mich hin, bis ein Gärtnereigehilfe mich überfällt mit einer Suada, wie sie im Buche steht. Offenherzig spricht er von allem, was ihn betrifft. Ex-Alkoholiker, 15 Jahre arbeitslos, und nun bei der Stadtparkreinigung untergekommen. Findet beim Zusammenkehren allerhand, letzthin eine Dose Thunfisch, die er bei der Hamburger Tafel abgegeben hat. Kurios vor allem, wie beiläufig er seine Babyfunde erwähnt. Erst kürzlich will er ein Kind entdeckt haben, dem Erfrieren nahe. Er weiß, was zu tun ist: Babystation. Dort hat er schon vier Kinder abgegeben, allesamt im Stadtpark ausgesetzt. Wenn er in der Station erscheint, wird er mit „Da kommt unser Vater“ begrüßt, wie er stolz mitteilt. Mir gelingt es nicht, dazwischen zu gehen, gleich legt er wieder los und berichtet, dass er den Schlüssel für die öffentlichen Toiletten im Park besitzt, die er abends abschließen muss, damit die Penner nicht darin nächtigen. Diese rächen sich manchmal, indem sie Glasscherben zwischen die Holzbalken der Bänke legen, die er aber nicht übersieht und entfernt. Er ist eben auch ein Wächter. Ich reiße mich los, und beim Verlassen des Stadtparks denke mir mein Teil, nicht ohne Verständnis dafür zu haben, dass er sich ein Leben zusammenreimt: Mundus est fabula. Halteverbotsschilder am Wegesrand erinnern mich mit ihrer Internetadresse „Platz-da.de“ an meine morgendliche Miesepetrigkeit, und ich gönne mir einen Kaffee Togo mit Butterhörnchen. Störend aber die geschmacklos buntfarbigen Haarsträhnchen der nur mäßig Deutsch sprechenden Verkäuferin, die mir noch dazu einen „verfolgreichen Tag“ wünscht. Aus den Altpapierfluten dringt die Textzeile „Dem Schematismus Geist einhauchen“ zu mir, laute Muzak dröhnt aus den parkenden Autos, ein unangenehmer Zug trifft mich plötzlich beim Vorübergehen an Hinterhofeinfahrten, in denen auf Schildern das Verzehren von Alkohol verboten wird, die nikotingeschwängerte, stickige Luftsäule beim Eingang zu einem Spielecenter ekelt mich, und ich stoße auf einen alten Mann mit Augenbinde, der seinen Gehwagen von einem übergewichtigen Mops mitziehen lässt. Die Untiefen der schlichten Wirklichkeit, aber diese geben dem Tag ein Gesicht, wie auch jene im Stadtteil bekannte Verrückte, die, in heftige Selbstgespräche verwickelt, mir entgegenschleicht und die mich mit der Bitte anspricht: „Könnten Sie mir mit 50 Cent aushelfen?“ Nicht wenig erstaunt über den fehlerfreien Vortrag des Satzes gebe ich ihr mehr als das Verlangte. Sie tapert in den nächsten Hauseingang und verschwindet im dunklen Flur. Kurz bevor ich heimkehre, fängt es bei Sonnenschein an zu regnen und es bildet sich ein überdeutlich sichtbarer Bogen über unserem Haus. Ein befristetes Leuchten, unwirklich fast und von kaum einem bemerkt, und ich meine mich zu erinnern, gestern in einem Buch über die gleichgültig verteilte Noblesse des Wetters gelesen zu haben. Mein letzter Blick gilt einem grünen Transporter, der den Schriftzug „Dichtung & Wahrheit – der Sanitätsspezi“ trägt. Ich schmunzle, und für den Rest des Tages ist ein Motto gefunden, mit dem ich einverstanden sein kann. Hoffentlich auch die Herzdame, wenn sie den Nichtsnutz am Abend fragt, wie er denn die Zeit verbracht habe und er innerlich gelöst – mit Goethe – antworten wird: „Mit Wiederbelebungsversuchen!“

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TITANflex


Bildgruß an: https://www.flickr.com/photos/hobokollektiv/52877299067/in/dateposted/

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Annonce

Er drängte ins Zimmer, ließ sich aufs Bett fallen, rang nach Luft. Keiner von uns kannte ihn, niemand hatte ihn eingeladen. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis er erste verständliche Worte von sich geben konnte. Dann aber fügte er atemlos einen Satz an den anderen: „Sie kommen. Bald kreuzen sie auch hier auf. Gebt Acht, sonst werdet ihr zerschmettert. Sie reißen an sich, was sie nur kriegen können, gefühllos gegenüber allem, was sich ihnen in den Weg stellt. Sie setzen alles in Brand, was uns lieb und teuer ist. Der Sog der Zerstörung wird unvorstellbar sein, verheerend für uns alle. Es geht so schnell, das wir nicht erfassen können, was mit uns passiert. Mit einer geisterhaften Lautlosigkeit schleichen sie sich ein und höhlen uns innerlich aus. Es gibt kein Entkommen. Fangt schon mal an, Euch zu verabschieden, von euren Liebsten, von der Welt, vom All.“ Keiner rührte sich, keiner verstand, wovon er sprach, aber gemeinsam versuchten wir, den merkwürdigen Besucher aus dem Zimmer zu katapultieren. Er schrie, während er aus dem Raum getragen wurde, noch die unmissverständliche Botschaft heraus: „Die Erde bietet dem Menschen keine Bleibe mehr.“ Dann stießen wir ihn die Treppe runter und verbarrikadierten die Tür. Niemand verlor ein Wort über den ungebetenen Gast, der den Teufel an die Wand gemalt hatte. Doch die bleierne Macht eines gebieterischen Urteilsspruchs blieb im Zimmer zurück: Unsere Aufenthaltserlaubnis auf diesem apfelrunden Planeten lief mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus. Draußen vor der Tür rumorte es gewaltig.

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Mural


… bis er an eine Mauer stößt, langsam heruntergleitet, sich umdreht und sitzen bleibt. Neben ihm auf dem Boden steht eine Flasche Wein. Der Inhalt leuchtet rot, das Etikett ist nicht zu entziffern, der Korken steckt fest im Hals. Worauf soll er warten, ein Anlass ist schnell gefunden. Aber auch ohne einen solchen Grund fühlt er sich für ein Quantum Prost immer bereit. Zudem ist er für Zufälle solcher Art gut gerüstet, denn er trägt stets einen Korkenzieher bei sich. Er öffnet also die Flasche, setzt sie an den Mund und nimmt einen kräftigen Schluck. In der Nähe hört er die Dämonen im Club Babylon Liebe machen. Doch mit jedem Schluck ängstigen sie ihn weniger. Ihr werdet mich nicht zum Verstummen bringen, sagt er zu sich, und leert die Flasche mit einem letzten Schluck aus. Dann kreiselt alles in seinem Schädel und nichts bleibt auf seinem Platz. Die Augen werden müder, die Glieder erschlaffen, der Körper gehorcht der Schwerkraft, sinkt zur Seite, zuckt noch kurz, bis er die Welt schlafend verlässt und Lichtjahre weg von allem ist, was ihn bedrückt …

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Entenhaus oder: Die Magie der Proportion

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Was man nicht versteht, bleibt offen

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Short cuts XLX


Zu dunstreich der Morgen,

ohne jede Bereitschaft am Mittag,

zu fad für einen Gang der Nachmittag,

nicht genug Ruhe am Abend,

um von der Stelle zu kommen.

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Tranches de vie XXXI oder: Im Angesicht des Leerguts

Armer Wicht

Der Ernst des Lebens ist nicht oben am Berg, er wird nirgendwo eher vergessen. Der Ernst des Lebens beginnt in der Ebene, wenn der Stein zum Stillstand kommt.

Die Große Schlappe kommt über Nacht und legt sich neben ihn. Ihr hagerer Körper wärmt nicht, die spitzen Knochen stechen ihm ins Fleisch, so dass er erwacht. Die allmähliche Selbstbesänftigung beim morgendlichen Gehen im Park wird vom Röhren der Häcksler gestört, und die Blätter im Gegenlicht der Sonne bleiben weitgehend unbemerkt. Wie immer ist er ohne Auftrag unterwegs. Kein autorisierter Agent kommt in Sicht, nur ein paar Vögel rascheln im Hinterhalt, ein Knicklicht flackert zwischen welken Blättern, und dem Gespräch zweier vor ihm gehenden Personen lauscht er unwillig. Bald erlahmt der letzte Rest Elan und er guckt auf einer Bank in den Tag hinein. Nichts stört seine Abwesenheit und er hängt für Minuten einem Wort nach: Z a h l t a g. Als traurige Gestalt kommt er sich in seinen Gedankengängen entgegen, und gewaltig ist der Absturz, der ihn am Rande des Parks erwartet. Dort steht ein Herr mit weißer Weste und händigt ihm ein Schriftstück aus, darin fein säuberlich seine Arbeitsschulden aufgelistet sind. Er kennt sie alle, doch fällt es ihm nicht ein, sie umstandslos zu begleichen. Lieber nicht! hallt es in seinem Schädel, und er lässt den Herrn links liegen, flieht hinter die Büsche, doch die Enge in seiner Brust nimmt nicht ab. Wie einen Stoß spürt er die Wucht dieser Begegnung, bis er die Wohnungstür hinter sich schließt. Entspannung stellt sich auch dort nicht ein, keine Selbstbeschwichtigung gewährt ihm die Ruhe, die ihn die Entdeckung vergessen lässt, dass sein Leben verpfuscht ist.

Und in der Tat hat sich der Ausverkauf seiner Geisteskräfte in bestürzender Eile vollzogen. Das entstandene Vakuum füllt er notdürftig mit äußeren Reizen, und die Beweise häufen sich, dass auch der letzte Rest seiner Würde vor die Hunde geht und er zu einem tief mit sich selbst überworfenen Menschen wird. So lebt er beziehungslos in den Tag hinein, schwimmt unbemerkt im Alltag der anderen mit und erschöpft sich in unverbindlichen Spielereien. Merkwürdigerweise denkt er nicht ans aufhören, verharrt vielmehr in diesem paradoxen Stillstand und vermehrt mit einer Art Angstlust die Wortspiegel, die in immer neuen und doch vertrauten Bildern die Nichtigkeit seines Tuns oder vielmehr: die Unbegreiflichkeit seines Nicht-Tuns zeigen.

In leeren Momenten kniet er sich nieder. Dann dröhnt ihm das Unmögliche in allem entgegen, und er will einmal hemmungslos verweilen vor dem Loch und hineinstarren, gedankenverloren, ohne Eigenwillen, um dann in der Abwesenheit zu versacken. Die Augen werden täglich weniger fähig, klar zu sehen, und sein Geist vertrocknet zunehmend zu einer Backpflaume. Nachts wird etwas in ihm zum Untier, das in panischer Raserei in seinen Träumen wütet, alles niedermäht, was ihm lieb und teuer ist.

Zudem häufen sich die Aussetzer. Einmal betrachtete er auf seiner Runde das Ende einer Straße, wie in einem Traum öffnete sich eine Tür, heraus trat ein Mann mit Bauchansatz, aus dessen Mund ganz langsam Zähne herausfielen, einer nach dem anderen, während hinter ihm eine Lampe mit der Aufschrift „Edenhall“ flackerte. Merkwürdig auch ein anderes Vorkommnis, das schon länger zurückliegt. „Komm gestern wieder“, forderte ihn ein alter Mann auf, als er vor dessen Wohnung stand und einen versehentlich bei ihm gelandeten Brief überreichen wollte. Dieses Nichtverstehen nimmt zu. Wenn er die Straßen entlang geht und nichts im Kopf hat, ist zwar alles, was ihm begegnet, dazu angetan, ihn in jene Richtung zu drängen, mit der alles begann, aber in letzter Zeit bleibt nichts mehr haften und die Verwandlung setzt nicht ein. So verzieht er sich ins Zwielicht der Worte, mit denen er seine Lage umschreibt. Aber das sind nur ungelenke Zeilen eines Phantasten, die im virtuellen Nirwana verschwinden.

Unter diesen Umständen fällt es der Großen Schlappe leicht, ihn heimzusuchen. Sie kommt über ihn und versucht, ihn vollständig lahmzulegen, und er kann sie gerade noch daran hindern. Alles hängt an einem seidenen Faden, die Depravation und seine Widerstandskraft, bis er dermaleinst im Boden versenkt sein wird. Aber noch herrscht ein fragiles Patt.

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Sisyphos I Berlin

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Tag

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